Filmkritik: Climax
Es ist keine wirklich originelle Idee, die der argentinisch-französische Regisseur Gaspar Noé mit Climax in sehr kurzer Produktionszeit so bravourös ausgeführt hat. Es ist 1996 und in einem ehemaligen Schulgebäude irgendwo im verschneiten französischen Nirgendwo probt eine Tanztruppe ein letztes Mal, bevor es zur Tournee durch Frankreich und in die USA gehen soll. Die Stimmung ist ausgelassen, der DJ talentiert und die Sangria ohne Wissen der Trinker mit LSD versetzt. Aus dieser unheilvollen Ausgangslage arrangiert Noé einen mit Brüchen, Tempowechseln und Umkehrungen versetzten, alptraumhaften Tanzfilm.
Climax beginnt mit der Konsequenz des Handlungshöhepunkts: Eine blutende Frau schleppt sich durch eine unendlich scheinende, schneebedeckte Landschaft, bis sie zusammenbricht und auf den Tod wartet. Wir folgen ihr aus der Vogelperspektive, seltsam entrückt vom Geschehen. In dieser sicheren Distanz lassen uns Noé und sein bewährter Kameramann Benoît Debie noch einige Zeit. So verfolgt man die erste Tanzeinlage wie ein ungebetener Gast, dem eine beeindruckende und lüsterne Street Dance-Choreographie entgegengeschleudert wird. Erst dann wird man ins Getümmel gelockt und lernt die Beziehungsgeflechte dieser Tanztruppe nach und nach kennen.
Die feine Linie zwischen Ekstase und Zerstörung
Da wäre die Choreographin Selva (Sofia Boutella), die eine Affäre mit dem jungen Aufreißer David (Romain Guillermic) hat, der wiederum aktuell einen Blick auf Gazelle (Giselle Palmer) geworfen hat. Gazelle ist eigentlich mit Omar (Adrien Sissoko) zusammen, was Gazelles Bruder nicht akzeptieren will und so weiter und so fort. Sex ist nicht nur das vorrangige Gesprächsthema der Tänzer zwischen den Proben, sondern auch große Inspirationsquelle für die sich im Freestyle in Ekstase und Rage Tanzenden. Es würde wahrscheinlich bei den üblichen Affären, Eifersüchteleien und Frustrationen zwischen ihnen bleiben, wenn sich nicht jemand einen vermeintlichen Spaß mit der Sangria erlaubt hätte.
Der Punkt, ab dem die Stimmung in Climax in Zerstörung und Chaos abdriftet, ist deutlich spürbar. Wurden wir vorher noch von der Kamera schwungvoll durch den Raum geleitet und mit Einzelkonflikten vertraut gemacht, gibt sie uns nun teils voyeuristische Einblicke aus wechselnden Egoperspektiven. Der Schwindel, die Hitze, der sich aufbauende Wahn – das alles lässt uns Noé durch diese wechselnden Einstellungen quasi spüren. Und im Hintergrund das stete Wummern von Dopplereffekt, Aphex Twin, Wild Planet und anderen Electro-Größen. Als klar wird, dass die Sangria nicht nur Alkohol enthält, gibt es erste Eskalationen bei der Suche nach dem Schuldigen. Danach bestimmen Grenzüberschreitungen und Kontrollverlust den Rest des Abends.
Leben als Ekstase, Zeugung als Konsequenz
Doch diesen Horrortrip aufs ästhetischste nachzuzeichnen, reicht Noé nicht. Vielmehr lädt er das Ganze durch Einblendungen von vermeintlichen Weisheiten auf, wie wir es aus seinem viel gescholtenen Vorgänger Love kennen. Es sind Reflexionen über Leben und Tod, die mit der Widmung beginnen („All jenen, die uns gezeugt haben und nicht mehr unter uns sind“), als Warneinblendung fungieren (Leben als „kollektive Unmöglichkeit“) oder als Aphorismus (Geburt als „Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte“). Dies fügt sich zusammen mit dem einen Handlungsmotiv, das in Climax neben Sex, Drogen und Tanz vorherrscht: die Zeugung als ungewollte Konsequenz.
So droht im Hintergrund der sich ihrer sexuellen Bedürfnisse sehr bewussten Tänzer stets die Möglichkeit der ungewollten Schwangerschaft, über die sich etwa Selva und Lou austauschen. Dass sie für die Tänzerinnen das sichere Karriereende darstellt, wird in Climax an Emmanuelle (Claude-Emmanuelle Gajan-Maull) exemplifiziert. Als Ex-Tänzerin begleitet sie die Truppe beratend und hat ihren kleinen Sohn Tito dabei. Dass dieser nicht schlafen will, während die Party eskaliert, mündet in eines der vielen Desaster dieses Abends.
Noé öffnet diese Interpretationsebene der Zeugung als Konsequenz der scheinbar nie endenden Ekstase dennoch mit urteilsfreiem Blick. Die Ekstase wird hier nicht abgewertet, sondern erscheint als Voraussetzung und Ursprung allen Lebens – sofern sie rechtzeitig ihr Ende findet. Was passiert, wenn der Ton stattdessen immer lauter gedreht, die Erschöpfung nicht mehr wahrgenommen und die Realität nicht mehr erinnert wird, zeigt Climax auf denkwürdige Weise.
ClimaxFrankreich 2018. Länge: 95 Min.Regie&Drehbuch: Gaspar NoéBesetzung: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Kiddy Smile, Claude-Emmanuelle Gajan-Maull, Giselle Palmer, Taylor Kastle, Thea Carla SchøttKinostart Deutschland: 6. Dezember 2018Gesehen auf dem Fantasy Filmfest 2018culturshock-wertung: 7/10 |
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