Film

Filmkritik: Tempestad

BERLINALE 2016 – Forum. Tatiana Huezo führt uns in ihrem Dokumentarfilm tief ins dunkle Herz Mexikos.

Eine Busreise vom Norden in den tiefsten Süden Mexikos soll Miriam nach einem abrupt beendeten Martyrium wieder nach Hause bringen. Eine raue, düstere Landschaft, von Wind und Wetter bewegt, erstreckt sich vor den Reisenden. Ihre Mienen bleiben beim Blick aus dem Fenster ebenso ungerührt  wie bei den forschen Polizeikontrollen, die alle paar Stationen erfolgen. Miriam erzählt unterdessen, ohne ihr Gesicht jemals zu zeigen, was sie mit jedem Kilometer zurücklässt. Nachdem sie ohne Beweise des Menschenhandels bezichtigt wurde, kam sie in ein vom Golfkartell betriebenes Privatgefängnis. Dort war sie fortan Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt ohne Aussicht darauf, jemals wieder freizukommen.

Scheinbare Erzählbrüche

Um ihr Überleben zu sichern, musste Miriams Familie der Gefängnisanstalt wöchentlich Geld überweisen. Furcht und Entsetzen haben sich tief in Miriams Stimme gegraben. Sie verspüre noch immer ein „unkontrollierbares Zittern“ als Folge der traumatischsten Erfahrungen, die sie als Insassin gemacht habe, erzählt sie an einer Stelle. Doch zugleich blickt sie fast hoffnungsvoll dem Wiedersehen mit ihrem Sohn Leo entgegen, dem sie vor knapp einem Jahr auf diese Weise entrissen wurde.

Tempestad Doku Mexiko

Adela schminkt sich für ihren Auftritt in der Manege. (© Pimienta Films)

Miriams Schilderungen werden in Tempestad fast abrupt von einer scheinbar anderen Welt unterbrochen. Wir sehen Adela, eine gestandene Frau mittleren Alters, die sich mit ihrer Zirkustruppe auf die nächste Vorstellung vorbereitet. Sie ist in einer Zirkusfamilie aufgewachsen, wurde schon als kleines Mädchen zur Artistin ausgebildet und kennt den Drill, den sie jetzt auch bei den Kindern ihrer aktuellen Truppe anwendet. Wer hinfällt, muss weitermachen, als sei nichts geschehen. Dass sie diese Lebensweise aber gerade nicht auf den Verlust ihrer vor Jahren entführten Tochter Monica anwenden kann, ist der Kern ihrer schmerzhaften Geschichte, an die sich Tempestad behutsam herantastet.

Trotzige Würde

Diese zwei aufs unterschiedlichste von der Kamera eingefangenen Geschichten miteinander zu verknüpfen, mutet zunächst gewöhnungsbedürftig, fast willkürlich an. Doch Huezos Dokumentarfilm gelingt gerade damit ein Spannungsbogen, der zum Höhepunkt mit der Enthüllung der schmerzhaftesten Teile die beiden Geschichten eint und sich dabei tief in die Magengruben der Zuschauenden gräbt. Was nachwirkt, ist das Gefühl der völligen Machtlosigkeit, dem diese beiden Frauen ausgesetzt waren und das sie mithilfe dieses Films Stück für Stück ablegen. Eine große, allem Unheil trotzende Würde strahlen die letzten Bilder in Tempestad aus. Mit „Waisen, von jeglicher Gerechtigkeit, von Institutionen und Autoritäten im Stich gelassen“ verglich Huezo einst im Interview mit Variety die mexikanische Gesellschaft. Diese von staatlicher Korruption und scheinbarer Gleichgültigkeit bedingte Verwaisung prangert sie in ihrem neuesten Dokumentarfilm aufs kraftvollste an. Absolut sehenswert.

Tempestad Doku MexikoTempestad

Dokumentarfilm
Mexiko 2016
Regie & Drehbuch: Tatiana Huezo
105 Min. Gesehen auf der BERLINALE 2016 – Forum

culturshock-Wertung: 8/10

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