Film

Berlinale 2024 #2: La Cocina (Wettbewerb)

BERLINALE 2024 – WETTBEWERB: Mit La Cocina legt der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios einen pulsierenden und erfrischenden Film über das gestresste Treiben in einer Großküche vor.

Über Zeit, Geschäftigkeit und Träume will der Einstieg von Alonso Ruizpalacios Wettbewerbsbeitrag La Cocina sich auslassen und fängt die so hart umkämpfte Aufmerksamkeit seines Publikums auf interessant stilisierte Weise in den ersten Szenen ein. Stakkatoartig reihen sich da verlangsamte und verschwommene Aufnahmen aus dem gegenwärtigen New Yorker Stadtleben aneinander, während aus Henry David Thoreaus antimaterialistischem Essay „Leben ohne Prinzipien“ zitiert wird. Dieses riet schon im Jahre 1854 dazu, unsere von technologischen Umwälzungen beschleunigte Lebensweise zu überdenken.

Doch Langsamkeit kann sich die gerade mal 19-jährige Estela (Anna Diaz), eine vor kurzem in New York eingetroffene Mexikanerin ohne Papiere, dieser Tage nicht leisten. Sie begibt sich mit der U-Bahn zum hochfrequentierten Times Square, um im „The Grill“ anzuheuern – einer Touristenfalle, die einer massigen Anzahl von Gästen täglich unauthentisch internationale Gerichte serviert. Pedro (Raúl Briones Carmona), ein Bekannter von Estelas Familie, arbeitet hier als Koch und meinte, er könne ein gutes Wort einlegen. Obwohl dies offenbar nicht geschehen ist, kriegt Estela den Job aufgrund eines Missverständnisses und kann sofort als Küchenhilfe anheuern. Als die allseits beliebte Küchenangestellte Samira sie in die Großküche, „La Cocina“, führt, lässt sich erahnen, warum die Fluktuation unter den Beschäftigten wohl so hoch ist.

Hohe Taktung, blanke Nerven

Hier reihen sich Station an Station aneinander, in der Pizza, Pasta, Steaks, Fisch, Vor- und Nachspeisen zubereitet werden. Das Kochteam ist international, größtenteils ohne Aufenthaltsgenehmigung in den Staaten und steht unter hocherhitztem Dauerstress. Doch die Stimmung ist sowohl abgeklärt als auch aufgeputscht: Bier und Zigaretten werden während der Arbeit herumgereicht, es wird unentwegt gesprochen, geflucht, gelacht und aufgezogen. Die Kamera von Juan Pablo Ramírez rast mit einer ansteckenden Energie durch dieses vielstimmige und -sprachige Szenario, das jederzeit überfordern könnte. Doch Ruizpalacios‘ Entscheidung, seinen Film in Schwarz-Weiß zu halten, wendet dies glücklicherweise ab und ermöglicht eine Konzentration auf diverse interessante Figuren von La Cocina.

Im Zentrum steht vor allem die Liebschaft zwischen Koch Pedro (Raúl Briones Carmona) und Kellnerin Julia (Rooney Mara), die jüngst zu derer ungewollten Schwangerschaft geführt hat. Während die beiden über Julias anstehende Abtreibung und eine gemeinsame Zukunft streiten, stellt sich die gesamte Belegschaft auf unangenehme Gespräche ein. Denn wie der Buchhalter mit Schrecken festgestellt hat, weisen die jüngsten Tageseinnahmen ein Defizit von rund 800 Dollar auf. Irgendwer wird sie also entwendet haben und ausgerechnet Luis (Eduardo Olmos), der schmierige Assistent von Geschäftsführer Mr. Rashid (Oded Fehr), darf Detektiv spielen. Estela bleibt hiervon wohl verschont, kriegt aber an ihrem ersten Tag dennoch die gesamte Breitseite zusammenprallender Mikrokosmen und umkämpfter Hierarchien dieses Betriebs ab.

Eine nie enden wollende Knochenarbeit

Mit einer erfrischenden Unberechenbarkeit rast La Cocina im weiteren Verlauf voran und schlägt gleichermaßen komische wie zunehmend tragische Töne an. Über allem schwebt das Thema einer nie enden wollenden Knochenarbeit, die die Kassen der hier Angestellten gerade mal knapp füllt, sie aber auf Dauer aussaugt. Vor allem aber lässt dieser Zustand, wie es das Thoreau-Zitat vom Anfang vorwegnahm, sie nicht mehr träumen. Dank realitätsnaher Wortwechsel und gelegentlicher poetischer Spitzen erweisen sich Pablo, Estela, Julia, Samira und alle übrigen als komplexe, vom Dauerstress gezeichnete und stets um Zuversicht ringende Charaktere, deren Mühen ans Herz gehen. Inspiriert von eigenen Großküchenerfahrungen und Arnold Weskers Theaterstück The Kitchen (1957) hat Alonso Ruizpalacios (Museo, Ein Polizei-Film) einen faszinierenden, pulsierenden Kraftakt von einem Film geschaffen. Dessen Trubel wird hin und wieder von nachdenklichen bittersüßen Monologen unterbrochen, büßt dabei aber niemals an Energie und Wahrhaftigkeit ein. Sehr sehenswert.

La Cocina

Mexiko / USA 2024
REGIE & DREHBUCH: Alonso Ruizpalacios
KAMERA: Juan Pablo Ramírez
BESETZUNG: Raúl Briones Carmona, Rooney Mara, Anna Diaz, Motell Foster, Oded Fehr, Laura Gómez, James Waterson, Lee Sellars, Eduardo Olmos
139 Min. Kinostart Deutschland: unbekannt
Gesehen auf der Berlinale 2024 – Wettbewerb

culturshock-Wertung: 9/10

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