Film

BERLINALE 2023 #5: Home Invasion (Forum Expanded)

Der experimentelle Essay-Film Home Invasion setzt sich gesellschaftskritisch mit der Entwicklung von Home-Security-Systemen auseinander.

Home Invasion Film Berlinale

Der Erspähte späht zurück | ©Graeme Arnfield

Vor schwarzem Hintergrund eingeblendeter Text, der sich in der Mitte der Leinwand wölbt, als würde man durch einen Türspion schauen, dazu metallisch-dissonante Töne und unvermittelt eingestreutes Videomaterial von ‚smarten‘ gegenwärtigen Türklingeln mit Überwachungsoption – Graeme Arnfield verlangt dem Publikum seines experimentellen Essayfilms Home Invasion durchgängige Aufmerksamkeit ab. Und dies in einer Zeit, in der unser aller Aufmerksamkeitsspannen aufgrund der Durch-Digitalisierung unseres Alltags zunehmend schrumpfen. Aber auf ebensolche gesellschaftliche Entwicklungen durch technologische Errungenschaften zielt Arnfields Film ab, der sich intensiv mit den Meilensteinen in der Historie von Systemen zur Heimüberwachung befasst.

Von begründeter Angst zur Überwachungsmanie

Diese beginnt in Home Invasion im Jahr 1966, als die in New York lebende, afroamerikanische Krankenschwester Marie Van Brittan Brown aus einem Alptraum über Einbrecher hochschreckte. Aufgrund des Schichtdienstes ihres Ehemanns war sie abends meist allein in ihrer Wohnung in Queens, einem Viertel mit hoher Kriminalitätsrate, in dem sich die Polizei nach Notrufen erst spät blicken ließ. Aus ihrem Drang nach Sicherheit brachte Brown schließlich gemeinsam mit ihrem Ehemann eine über vier Gucklöcher gleitende Videokamera an ihre Haustür an. Deren Aufnahmen wurden auf ihrem TV-Monitor abgespielt und via einer korrespondierenden Mikrofonanlage konnte Brown nun nach dem Klingeln erfragen, wer da vor der Tür stand. Dieses Überwachungssystem, das Brown und ihr Ehemann im selben Jahr zum Patent anmeldeten, wurde zum Vorgänger moderner Home Security-Gerätschaften, die in den darauffolgenden Jahrzehnten vor allem in reichen und vornehmlich weißen Vorstädten der USA zum Einsatz kamen.

Rückzug in die Paranoia

Pointiert stellt Arnfield im Folgenden dar, was das heutige, besorgniserregende Pendant zur bahnbrechenden Erfindung von Marie Van Brittan Brown ist: Die ‚smarte‘ Türklingel, die Unternehmer Jamie Siminoff 2011 entwickelte und mit der er 2013 bei der Entrepreneur-Reality-Show „Shark Tank“ vorstellig wurde. Siminoff präsentierte seine „Doorbot“ genannte, ‚smarte‘ Videoklingel als komfortable Möglichkeit, über das eigene, damit verbundene Smartphone erspähen und aufnehmen zu können, was sich vor der Haustür abspielt. Die Jury von „Shark Tank“ biss nicht an, dafür dann aber Internetriese Amazon, dem seit 2018 das nun unter „Ring“ firmierende Unternehmen für Gebäudesicherheit gehört. Seitdem halten Ring-Türklingeln in den wohlhabenderen Gegenden der USA Einzug und generieren umfängliches Videomaterial, das in der zugehörigen App „Neighbors“ mit anderen besorgten Bürger*innen aus der Nachbarschaft geteilt werden kann.

Home Invasion Film Berlinale

Der britische Experimentalfilme Graeme Arnfield | © Graeme Arnfield

Scheinbar beiläufig, aber sehr bewusst ausgewählt, streut Arnfield Auszüge aus diesem Ring-Videomaterial in sein Video-Essay ein. Sie zeigen unter anderem verwunderte Paket- und Pizzaboten, Menschen, die auf der Türpforte abgelegte Pakete stehlen und dann einen Polizisten, der dieses umfassende Überwachungssystem im Gespräch mit dem Hausbesitzer lobt. Dabei geht Home Invasion aber vertieft auf die berechtigte Sorge ein, dass dieses datenhungrige System den Graben zwischen Arm und Reich weiter vertiefe und die Abschottung und Paranoia der Wohlhabenden in einer immer ungerechter werdenden Gesellschaft befördere.

Ein aufschlussreicher Part über das Aufkommen von Home-Invasion-Stoffen seit der Stummfilmzeit und insbesondere D.W. Griffiths The Lonely Villa (1909) vertieft diese Analyse, bevor Arnfield zu seinem letzten Akt überleitet und die häufig belächelte Arbeiterbewegung der Luddisten in Großbritannien Anfang des 19. Jahrhunderts beleuchtet – als gerechtfertigten Sturm auf die rücksichtlose Einführung invasiver und existenzgefährdender Technologien. Home Invasion entwickelt sich somit zum anregenden und aktivistischen Video-Essay – in vielerlei Hinsicht fordernd, aber auch sehenswert.

Home Invasion

Dokumentarische Form / Essayfilm
Großbritannien 2023
BUCH UND REGIE: Graeme Arnfield
92 Min. Kinostart Deutschland: unbekannt
BERLINALE 2023 – Forum Expanded

culturshock-Wertung: 8/10

Share: