Filmkritik: I Am Not Your Negro
BERLINALE 2017 – PANORAMA DOKUMENTE: „Ich mache keine Filme über die Vergangenheit, ich mache Filme für die Zukunft“, sagte der haitianische Regisseur Raoul Peck auf einer Veranstaltung des Berlinale Talent Campus über seine beiden hier präsentierten Filme Der junge Karl Marx und I Am Not Your Negro. Vor allem auf letzteren trifft dies unbedingt zu. Es ist ein dokumentarischer Essay über ein unvollendetes Buchprojekt des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin (1924-1987). Zugleich ist sein Film aber auch eine Abhandlung über die Wurzeln des Rassismus in Amerika mit konstruktiven Ansätzen für seine Überwindung.
Drei Leben, die sich gegenseitig offenbaren
I Am Not Your Negro setzt im Jahr 1979 an, als James Baldwin aus Paris in die USA zurückkehrte. Er müsse mit dieser Heimkehr eine Pflicht erfüllen, seinen Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung leisten, die von seinen inzwischen ermordeten Freunden Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King so weit vorangebracht wurde, um dann jäh unterbrochen zu werden. Die Leben dieser drei sehr unterschiedlichen Männer wollte James Baldwin damals näher erkunden, sie für sein geplantes Buch Remember this House „gegeneinander schlagen und sich gegenseitig offenbaren“ lassen. Das Werk blieb unvollendet, wie uns dieser Film gleich zu Beginn wissen lässt. Die von Samuel L. Jackson gelesenen Passagen aus dem nach Baldwins Tod gefundenen Manuskript dienen I Am Not Your Negro als Grundgerüst, das von Interview-Aufnahmen von Baldwin, vom 19. bis ins 21. Jahrhundert reichenden Fotos und Szenen aus populären Filmen umgeben wird.
„The Story of the negro in America is the story of America. It is not pretty.” – James Baldwin
Baldwins pointierte Gedanken zum Rassismus-Problem in Amerika reichen dabei weit zurück. Er setzt sich mit der Ermordung von Amerikas Ureinwohnern auseinander und zieht von hier aus eine Linie zur Verschiffung und Versklavung von Menschen, die von sich aus keinerlei Absicht hatten, einen Fuß in dieses Land zu setzen. Sein Standpunkt zum aus dieser Ausgangslage entstandenen Rassismus ist von keiner der Bürgerrechtsorganisationen der 60er und 70er Jahren maßgeblich geprägt. Baldwin erläutert an einer Stelle sogar, warum er weder bei der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), bei den Black Muslims, den schwarzen Christen oder der Black Panther-Bewegung Mitglied war. Stattdessen besinnt er sich auf seine lebenslange Suche nach einer Möglichkeit zur friedlichen, gleichberechtigten Koexistenz von Schwarzen und Weißen in den USA.
Wie weit man von dieser zu Baldwins Zeiten noch entfernt war, belegt der Film eingehend mit historischen Aufnahmen, etwa von der 15jährigen Dorothy Counts. 1967 betrat sie als erste schwarze Schülerin eine High School in North Carolina und wurde von einer weißen Schülermenge ausgelacht, beschimpft und bespuckt. Fotos von gelynchten Schwarzen in den Südstaaten, von der Stereotypisierung und Degradierung von Schwarzen zu gutgelaunten Dienern auf Werbebildern (noch lange nach der Abschaffung der Sklaverei), zu ewigen Nebenrollen in weißen Spielfilmen ergänzen Baldwins Darlegung der damaligen (und zum Teil auch heutigen) Gegenwart. Die drei Aktivisten Medgar Evers, Malcolm X, Martin Luther King, die Baldwin alle persönlich gekannt hat, integrieren sich in diesem Film als Wortführer im Kampf um ein würdevolles Leben inmitten dieser sie herabsetzenden Gesellschaft. Vor allem der Tod Martin Luther Kings wird von Baldwin als schmerzhaftes Erlebnis, als Erlöschen eines Hoffnungsschimmers für die schwarze Gemeinschaft erinnert.
“The Bigger Picture“
Baldwins Erinnerungen, seine Gedanken und Theorien zur Geschichte des Rassismus in den USA könnten allein schon als wertvolle historische Dokumentation zu den Mühen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 60er und 70er Jahre dienen. Doch I Am Not Your Negro geht einen beherzten Schritt weiter, indem es zu wichtigen, erstaunlich aktuell erscheinenden Kernfragen in Baldwins Schriften vordringt und diese mit Bezügen zu Ereignissen und Phänomenen der letzten Jahre belegt.
Diese Verknüpfung von rund vierzig Jahre auseinander liegenden Gegenwartsbezügen wirkt in I Am Not Your Negro in keinem Fall weit hergeholt, verfälschend oder manipulativ. Zu sehr zielen dafür Baldwins Argumente auf eine tieferliegende, zeitlose Wahrheit über Rassismus ab, die sich einem nach dem Anschauen dieses Films vielleicht nicht sofort offenbart, aber einen zum Nachdenken und -forschen anhält. Es sei in dieser ‚postfaktischen‘ Gegenwart einfach an der Zeit gewesen, Baldwin zurückzubringen, um das große Ganze, „the bigger picture“ sehen zu können, erklärte Raoul Peck bei seinem Auftritt im Berlinale Talent Campus. Dies ist eine Wahrheit, die sich einem beim Anschauen von I Am Not Your Negro sofort erschließt.
I Am Not Your NegroDokumentarfilmFrankreich / USA / Belgien / Schweiz 2016Regie: Raoul Peck93 Min. Berlinale 2017 – Panorama Dokumenteculturshock-Wertung: 8/10 |