Filmkritik: First Reformed
FILMFESTSPIELE VENEDIG – WETTBEWERB: Es ist wohl der letzte Versuch, seiner Schmerzen Herr zu werden: Ein Jahr lang will der Geistliche Toller (Ethan Hawke) aufrichtig Tagebuch führen. Dass der 47-Jährige bei dieser täglichen Selbstkonfrontation stets eine Flasche Whiskey griffbereit hat, kann allein nicht erklären, in welche abstruse und gefährliche Richtungen seine mit dem Zuschauer geteilte Gedanken im Verlauf dieses Dramas über Schuld, Glauben und Erlösung weisen.
Von der Augenhöhe zur Unterwerfung
Ausgangspunkt für Tollers suche nach Erlösung ist die Schuld, die er am Tod seines Sohnes trägt. Dieser ist als Soldat im Irak-Krieg gefallen, nachdem sein Vater ihn dazu ermutigt hatte, seine patriotische Pflicht zu erfüllen. Toller, zuvor Geistlicher einer Militärkapelle, hat sich daraufhin zur ‚First Reformed‘ versetzen lassen – eine kleine protestantische Kirche, die in der langen ersten Einstellung des Films fokussiert wird, bis wir aus Froschperspektive zu ihrem spitzen Turm emporblicken. Die Hoffnung und Verzweiflung, die sich an gänzliche Gottergebenheit knüpfen – das ist ein zentrales Thema von First Reformed.
So wendet sich die junge Mary (Amanda Seyfried), Mitglied der Kirchengemeinde, an Toller in der Erwartung, dass er ihren Mann Michael zur Besinnung bringen könne. Michael leidet wie Toller an der Gegenwart, allerdings in umfassenderem Maße: Die Verschmutzung der Umwelt und Gefährdung der Erde machen ihm so sehr zu schaffen, dass er sich einer militanten Umweltorganisation angeschlossen hat. Zudem rät er seiner schwangeren Frau Mary zur Abtreibung, da er kein Kind in diese dem Untergang geweihte Welt setzen wolle. Mit Widerwillen nimmt sich Toller dieses Falls an und führt Gespräche mit Michael. Vergebens: Michael wählt den Freitod.
In der Folge versucht Toller der verwitweten Mary so gut es geht Trost zu spenden. Zugleich sympathisiert er immer stärker mit Michaels Anliegen, diese Welt vor weiteren Umweltkatastrophen zu bewahren. Er fängt an zu hinterfragen, welche Verantwortung hier seiner Kirche zukommt, die sich unter anderem von Spenden des örtlichen Luftverpesters BALQ Industries finanziert. Als seine Bedenken vom Energiemogul Ed Balq und auch dem Kirchenvorstand brüsk zurückgewiesen werden, zieht es Toller immer tiefer in den Glauben, dass es extreme Mittel braucht, um ein Zeichen zu setzen.
Fundamentalismus neu erkundet
Das bemerkenswerte an First Reformed ist seine Vielschichtigkeit. Kaum glaubt man, eine Ahnung davon zu haben, woran Toller krankt und welchen Weg er zur Genesung ergreifen wird, macht sich Regisseur Paul Schrader daran, eine verborgene Ebene zu enthüllen, die seine Motivation neu hinterfragt. Dies versetzt den Zuschauer in die Lage Tollers, der nicht mehr weiß, wohin mit seinem Glauben und sich selbst. Wir wandern mit ihm abwärts in immer trostlosere Befunde zur Gegenwart und dies ist trotz kurioser Momente zunehmend niederschlagend und ermüdend. Doch das mitunter herbeigesehnte Ende erlöst uns dann doch auf andere Weise als erwartet. Es schafft Sinn in diesem Dickicht aus Schuld, Verzweiflung und Fundamentalismus – bei Toller ebenso wie beim Zuschauer. Ein sehenswerter Film, der unübliche Erklärungsansätze für den gegenwärtigen Hang zum Extremen findet.
First ReformedUSA 2017Regie & Drehbuch: Paul SchraderBesetzung: Ethan Hawke, Amanda Seyfried, Cedric Kyles, Victoria Hill108 Min. Filmfestspiele Venedig – Wettbewerbculturshock-Wertung: 8/10 |