Filmkritik: Ex Libris
FILMFESTSPIELE VENEDIG – WETTBEWERB: Einige heiß ersehnte Weltpremieren hat das Filmfestival von Venedig in diesem Jahr in der Wettbewerbssektion zu bieten. Die Vorfreude auf den 197 Minuten langen Dokumentarfilm Ex Libris – The New York Public Library hat sich bei vielen Besuchern des Festivals aber eher in Grenzen gehalten (mal abgesehen von ein paar eingefleischten Fans des Regisseurs Frederick Wiseman, die schon zu Beginn der Pressevorführung aufgeregt losklatschten). Doch wer mit gemäßigten Erwartungen in die Vorstellung ging, wurde überrascht von einem aufschlussreichen Dokumentarfilm über eine sozial äußerst engagierte Institution.
Ein Ort der Vielfalt
Die New York Public Library (NYPL) verfügt aktuell über einen Bestand von über 51 Millionen Medien und 87 Zweigstellen. Damit gehört sie zu den größten Bibliotheken der Welt. Im unkommentierten, nicht in die dargestellten Vorgänge eingreifenden Stil des Direct Cinema zeigt uns Wiseman Aufnahmen aus einzelnen Events und Programmen dieser Institute: Leseprogramme für Kinder, ein Vortrag vom Evolutionsbiologen Richard Dawkins über Religion, ein Kurs zum Thema „How to get a Green Card“, eine Buchvorstellung mit Sänger Elvis Costello und vieles mehr. Scheinbar unvermittelt gehen diese Szenen ineinander über, fügen sich aber nach und nach zu einem Bild von einer äußerst lebendigen und vielfältigen Einrichtung zusammen.
Die NYPL ist weitaus mehr als der prachtvolle Lesesaal, den mancher Zuschauer schon aus einigen Spielfilmen kennen dürfte. Wie sie sich im Hintergrund auf die Bedürfnisse ihrer Nutzer ausrichtet, fängt Wiseman im Konferenzraum des CEOs Anthony Marx ein. Die Finanzierung aller Aktivitäten der Bibliothek, die wachsende Nachfrage nach eBooks, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Instituten werden hier offen zwischen Marx und seinen Mitarbeitern diskutiert. Nach und nach kristallisiert sich in Wisemans Film die große Bedeutung der NYPL als soziale Einrichtung heraus.
Ausgleichende Rolle
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Eine Bibliothek sei kein Bücherlager, sondern ein Ort für Menschen, wird an einer Stelle in einem Vortrag zur Zukunft der Bibliotheken geäußert. Und Ex Libris zeigt uns eindrücklich, wie sehr das für die NYPL gilt: Mit zahlreichen Hilfsprogrammen dient sie als Anlaufstelle für Menschen mit Behinderung, Ältere und Obdachlose, die hier nicht nur hilfreiche Informationen sondern auch Auswege aus der sozialen Isolation erhalten. Wiseman fokussiert hier keine einzelnen ‚Helden‘ und verfolgt keine an Einzelschicksalen angelehnte Dramaturgie verfolgt. Dadurch erhält man als Zuschauer die Freiheit, sich einen Eindruck von den umfänglichen Leistungen der NYPL zu verschaffen.
Dass dieser für jeden an sozialer Gerechtigkeit interessierten Zuschauer positiv ausfallen muss, ist vielleicht das einzige Manko von Ex Libris. Probleme, Verfehlungen oder Schwächen in der Organisation werden hier kaum thematisiert. Stattdessen überwiegt die Dankbarkeit, dass es überhaupt solch eine engagierte Einrichtung in New York gibt. Sie wird als wertvolles Korrektiv in einer ansonsten weniger inklusiven Gesellschaft porträtiert – womit Ex Libris indirekt auch als sozialer Kommentar zu verstehen ist. Und dieser ist trotz seiner Länge weitaus kurzweiliger und eingängiger als so manche ambitioniert-aufklärerische Sozialdoku.
Ex Libris – The New York Public LibraryDokumentarfilm. 197 Min.USA 2017Regie: Frederick WisemanFilmfestspiele Venedig – Wettbewerbculturshock-Wertung: 7/10 |