Serie

Serienkritik: The Leftovers (Staffel 1)

Nachdem HBO im Juni dieses Jahres die Pilotfolge der Mystery-Serie The Leftovers ausgestrahlt hatte, waren die ersten Reaktionen gemischt: Das neue Projekt hatte schon allein wegen des ausgezeichneten Rufs des für seine gelungene Serienunterhaltung bekannten Pay-TV-Senders eine gute Startposition. Doch gleichermaßen breitete sich Misstrauen aus, war doch bekannt, dass kein geringerer als Damon Lindelof als Showrunner für The Leftovers verantwortlich war. Der Damon Lindelof, der Lost miterschaffen hatte. Und viele Zuschauer- sowie Kritiker-Reaktionen zeigten, wie sehr das Urteil über The Leftovers von der eigenen Erfahrung mit Lost und vor allem dessen Serienende abhing.

Die Nachbeben des Lost-Finales 2010

Für viele Zuschauer war Lost eine großartige Fernseherfahrung. Eine Serie, die ihnen ständig den Atem verschlug, mit fiesen Cliffhangern und aus dem Boden schießenden neuen Mysterien. Ein Abenteuer, das seine Figuren auf eine traumhafte Insel an den Rand der Welt verschlug, nur um sie dort mit den Schatten ihrer Vergangenheit zu konfrontieren (und hin und wieder mit einem seltsamen Rauchmonster). Doch gerade für einen erheblichen Teil dieser treuen Serienanhänger war das Finale von Lost niederschmetternd, da sie es als Verrat an allem bis dahin Gesehenen und – von einigen wirklich so drastisch formuliert – Verschwendung von sechs Jahren Lebenszeit betrachteten. Showrunner Damon Lindelof und Co-Produzent Carlton Cuse hatten bei vielen Zuschauern durch das Öffnen von mehr und mehr mythischen Pforten so hohe Erwartungen an ein alles auflösendes Ende geschaffen, dass es zu einer Massenenttäuschung kommen musste.

Welche Ausmaße diese Enttäuschung immer noch hat, bekam Lindelof zum Beispiel 2011 zu spüren, als Game of Thrones-Schöpfer George R.R. Martin dem New Yorker seine größte Angst in Bezug auf das Ende seiner Romanserie verriet: es ähnlich zu vermasseln wie Lost. Im letzten Jahr nahmen zudem einige das grandiose Breaking Bad-Finale zum Anlass, Lindelof auf Twitter zu verhöhnen: „Großartig geschriebenes Breaking Bad-Finale! Ich hoffe, Du hast Dir Notizen gemacht, Lindelof?“

Trotz dieser vielen Unkenrufe von Fans und Kritikern gleichermaßen, wagte sich Lindelof nach einigen Abstechern ins Film-Business (er arbeitete u.a. an den Drehbüchern zu PrometheusWorld War Z und Cowboys & Aliens mit) zurück an ein TV-Projekt. Bereits 2011 hatte sich HBO die Rechte an Tom Perrottas Roman The Leftovers (dt.: Die Verlassenen) gesichert. Dieser handelt von dem plötzlichen Verschwinden von zwei Prozent der Weltbevölkerung und den Umgang der Zurückgelassenen mit diesem unerklärlichen Ereignis. Der US-amerikanische Schriftsteller Perrotta hatte zuvor schon Romane geschrieben, die verfilmt worden waren: Die herrliche Satire Election und das vielbeachtete Drama Little Children. Zur TV-Adaption von The Leftovers verpflichtete HBO neben Perrotta selbst auch Damon Lindelof, der der Romanhandlung einen ordentlichen Schuss Rätselhaftigkeit beisteuerte.

Entrückung und Bedrückung

Die gleichnamige TV-Adaption von Perrottas Roman The Leftovers porträtiert die Mitglieder einer Gesellschaft, die in einem Wust aus Verlusterfahrung, Schuldgefühlen und Hoffnungslosigkeit zu zerfallen droht. Dabei ist der Plot zeitlich drei Jahre nach der großen ‚Entrückung‘ situiert und konzentriert sich ausgerechnet auf eine Familie, die gar nicht direkt von diesem Ereignis betroffen ist, aber dennoch jeglichen Halt im Zuge des Ereignisses verliert: die Garveys.

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Versteht die Welt nicht mehr: Kevin Garvey (Justin Theroux)

Familienvater Chief Kevin Garvey Jr. (Justin Theroux) hat als Polizist in seiner Heimatstadt Mapleton zunehmend Schwierigkeiten, für Recht und Ordnung zu sorgen und ist auch privat ein gezeichneter Mann. Seine Frau Laurie (Amy Brennemann) hat ihn verlassen, um sich dem Kult der ‚Guilty Remnants‘ (zu deutsch in etwa: ‚die schuldigen Verbliebenen‘) anzuschließen. Sein Sohn Tom hat das College geschmissen und tingelt durch die Staaten als Anhänger eines mysteriösen Gurus. Und die daheim gebliebene Tochter Jill hat neben den üblichen pubertären Problemen ebenso mit diesem Familienzerfall zu kämpfen wie ihr Vater – ohne dass die beiden auf einen grünen Zweig kämen, versteht sich.

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Die Guilty Remnants bei einer ihrer Aktionen

In der Pilotfolge der Serie muss sich Kevin mit der in Mapleton anstehenden Gedenkfeier zum dritten Jahrestag der Entrückung auseinandersetzen. Er sagt voraus, dass diese als ‚Heroes Day‘ proklamierte Feier nur katastrophal enden kann, denn schließlich würden die Guilty Remnants nichts unversucht lassen, die Hinterbliebenen an einer Rückkehr zur Normalität zu hindern. Diese Sekte, die nicht als Sekte bezeichnet werden will, hat klare Prinzipien aber undurchsichtige Ziele. Ihre Mitglieder kleiden sich alle in Weiß, leben kommunenartig in überfüllten Häusern und haben allem entsagt, was mit ihrem Leben vor der Entrückung zu tun hatte. Sie reden nicht, verständigen sich untereinander nur durch Blicke und Notizbuch-Gekritzel und verfolgen in Duos die von dem Verschwinden Betroffenen. Dabei rauchen sie unentwegt – ihre Art, den Hinterbliebenen mitzuteilen, wie wenig die alten Sorgen und Ängste (z.B. vor Krebs) jetzt noch bedeuten.

Laurie Garvey, Kevins Noch-Ehefrau, hat als ranghohes Mitglied die Aufgabe, neue Anhänger zu gewinnen und mit dem Kult vertraut zu machen. In Megan (Liv Tyler), einer jungen Frau, die seit dem Verschwinden einfach nicht in ihr altes Leben als freudige Verlobte zurückkehren kann, findet sie ihre neueste Anwärterin und der Zuschauer erlebt ihr allmähliches Abdriften in die Schweigsamkeit und Kettenraucherei mit.

Kritisch beäugt werden die Guilty Remnants in Mapleton nicht nur von der Polizei, sondern auch von Pfarrer Matt Jamison (Christopher Eccleston). Dieser hat nach der Entrückung einen Großteil seiner Kirchengemeinde durch deren Glaubensverlust eingebüßt. Nun lässt er nichts unversucht, die Mapletoner davon zu überzeugen, dass es sich bei dem drei Jahre zurückliegenden Ereignis nicht um die viel beschworene himmlische Entrückung der Gutmenschen vor der drohenden Apokalypse handelte, sondern vielmehr um eine Glaubensprüfung. Zu diesem Zweck druckt und verteilt er Flyer, auf denen einzelne Verschwundene unchristlicher Lebensweisen bezichtigt werden (Ehebruch, Kindesmisshandlung, Trinkerei etc.). Sein Wahn geht so weit, dass er nicht mal vor den verlorenen Angehörigen seiner Schwester Nora Durst (Carrie Coon) halt macht. Nora, deren Ehemann und zwei Kinder verschwunden sind, gilt als am schwersten betroffene Hinterbliebene in Mapleton.

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Will ihre Familie zurück: Nora Durst (Carrie Coon)

Wie von Chief Garvey befürchtet, eskaliert der Heroes Day: Während Nora eine bewegende Rede über den Verlust ihrer Familie hält, erscheinen die qualmenden Guilty Remnants und formieren sich mit ihren Buchstabentafeln zu einer harschen Aussage: „Hört auf, euren Atem zu verschwenden!“ Kilometerweit entfernt von den sich daraufhin abspielenden Krawallen, ist der College-Abgänger Tom Garvey damit beschäftigt, Botengänge und Fahrdienste für den selbsternannten Erlöser Holy Wayne zu erledigen. Holy Wayne verspricht, mit seinen Umarmungen die Hinterbliebenen von ihrem Leid zu erlösen, so dass diese mit ihrem Leben fortfahren können. Für den Erhalt seiner kosmische Energie benötigt er offenbar ihn anhimmelnde, minderjährige Asiatinnen, weshalb die Polizei nach ihm fahndet.

Dies ist in etwa das gänzlich an der Romanvorlage orientierte Handlungsgemenge, das The Leftovers in seiner Pilotfolge vor uns ausbreitet. Im weiteren Verlauf der Staffeln nimmt die Serie das Leiden der Nora Durst, die Absichten von Pfarrer Matt Jamison und die Verzweiflung von Jill Garvey näher in Augenschein und übertrifft mit der einfühlsamen Ausgestaltung dieser Charakteraufnahmen sogar die Romanvorlage.

The Leftovers beginnt somit als ein beängstigendes und gleichermaßen faszinierendes Gedankenspiel, das gar nicht so weit weg von der Realität ist, wenn man die religiöse Dimension, die das Verschwinden als Entrückung deutet, beiseite lässt. Man denke beispielsweise an den Flug MH370 und den bis heute fehlenden Spuren des Flugzeugs und der 239 Passagiere. Wie geht man als Hinterbliebener mit so einem diffusen Verlust und der quälenden Ungewissheit bezüglich der Existenz der vermissten Personen um? Und selbst nach einem Verlust durch weniger unerklärliche Ereignisse, sprich: dem Tod, haben die Hinterbliebenen mit einer Situation zu kämpfen, deren Gewissheit die Realität immer noch nicht unbedingt fassbarer macht. Diesen Fragen stellt sich The Leftovers ab der ersten Folge und ist dementsprechend eine immens aufwühlende Serie.

Und wieder: Mysterien

Doch was viele Zuschauer und vor allem Kritiker von der ersten Folge an misstrauisch machte, verstärkt sich ebenso mit den folgenden Episoden. Von Beginn an werden mysteriöse Elemente in die Handlung eingestreut, von denen der Roman gänzlich frei war. Obwohl Lindelof in Interviews zu The Leftovers immer wieder hervorgehoben hatte, dass es ihm keinesfalls darum ginge, jemals die Umstände des großen Verschwindens aufzuklären, sondern lediglich die gesellschaftlichen Auswirkungen zu beleuchten, wurde die Serienhandlung im Vergleich zum Roman deutlich mystisch aufgeladen. So hat Kevin Garvey, im Roman noch ein zwar bedrückter, aber alles in allem stabiler Charakter, in der Serie zunehmend mit Psychosen zu kämpfen, was ihn zu einer Reihe von Psychopharmaka greifen und einige Filmrisse erleben lässt. Noch dazu ist bereits sein Vater kurz nach dem Verschwinden dem Wahn verfallen und seitdem in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht.

Die von Kevin halluzinierten (oder eben realen?) Visionen von einem in der Umgebung grassierenden Rudel wilder Hunde, einem verirrten Hirschen oder der koketten Amy, Jills Schulfreundin, könnten allesamt etwas mit der Jahre zurückliegenden Entrückung zu tun haben, oder eben auch nicht. Kevin Garvey ist eine psychisch äußerst labile Hauptfigur, deren Perspektive der Zuschauer nie vollends vertrauen kann. Ebenso ist es ein Rätsel, ob Holy Wayne ein Scharlatan ist oder tatsächlich über heilende Kräfte verfügt. Und während sich im Staffelfinale dramatisch niederschlägt, was die Guilty Remnants über Monate hinweg geplant hatten, ist man hinterher ob ihrer Motive immer noch nicht schlauer.

Diese sorgsam aufrechterhaltene Rätselhaftigkeit könnte die schon von Andreas Borcholte befürchtete „ermüdende und am Ende implodierende Schnitzeljagd nach ‚Lost‘-Vorbild“ bestätigen. Doch Spekulationen dieser Art zeigen, woran es bei der Rezeption von The Leftovers und vermutlich auch kommenden Serien zunehmend fehlt: die Fähigkeit, der Serie ihren Verlauf zu gewähren, ohne ein grandioses Ende zu erwarten.

Das sinnstiftende oder alles zerstörende Ende

Damit wären wir wieder bei den überzogenen Erwartungen an das Lost-Finale 2011. Zugegeben, die Serie und ihre Macher haben sich im Verlauf der sechs Jahre einigen Eitelkeiten hingegeben, die sie in eine große Bringschuld brachten. Ging es in den ersten Staffeln noch darum, zu erkunden, wieso die Figuren auf dieser Insel waren, was für eine Geschichte die Insel hatte, und wie sie möglichst wieder von ihr loskommen könnten, fuhren die späteren Staffeln deutlich schwerere Geschütze auf. Plötzlich ging es um den Kampf zwischen Gut und Böse, das Wesen der Zeit und natürlich den Sinn des Lebens. Wer so ein Fass aufmacht, sollte auch Antworten parat haben, meinten viele Fans. Sie bekamen ein paar kleinere Erläuterungen, eine enorme Enthüllung (Stichwort Rauchmonster) und nach reichlich Actionsequenzen ein emotionales Ende, das den Kreis schließen sollte.

Viele gaben sich damit zufrieden und verteidigen bis heute das Finale. Die übrigen Fans sind untröstlich und verbreiten ihre Verbitterung sogar auf Serienschauer, die Lost nie gesehen haben. Die Folge: Das Finale einer erfolgreichen Serie wird inzwischen nicht nur als krönender, sondern als sinnstiftender Abschluss betrachtet. Dieser soll allein darüber entscheiden, ob sich die unzähligen Stunden der Rezeption (zum Teil durch auslaugendes Binge-Watching) wirklich gelohnt haben. Die Spannung, den Spaß oder auch die Ergriffenheit, die man vielleicht beim Schauen der vielen Folgen verspürt hat, werden auf diese Weise zur Nebensache erklärt. Und neue Serien wie The Leftovers mitunter bereits vorab und verfrüht als ‚nicht lohnend‘ abgeschrieben.

The Leftovers wurde inzwischen von HBO um eine weitere Staffel verlängert. Wie es darin weitergeht, bleibt ein großes Rätsel, selbst für die Leser von Perrottas Roman. Die erste Staffel endet nämlich an der gleichen Stelle wie der Roman, eine Fortsetzung hatte Perrotta nicht angedacht. Nun ist es also ihm und dem berüchtigten Lindelof überlassen, The Leftovers nach eigenen Vorstellungen weiterzuerzählen. Die erste Staffel ist mit ihren großartigen Darstellern (allen voran Justin Theroux und Carrie Coon), der bedrückenden Atmosphäre, der interessanten Charaktere und trotz einer hin und wieder plumpen Symbolik sehr empfehlenswert. Ob man am Ende sagen können wird „Das hat sich wirklich gelohnt.“, ist ein Gedanke, der beim Schauen der ersten Staffel jedenfalls gar nicht erst aufkommt.

The Leftovers SerieThe Leftovers

USA 2014
Basierend auf: Tom Perrotta: Die Verlassenen (The Leftovers, 2011), Roman
Entwickelt von: Damon Lindelof, Tom Perrotta
Besetzung: Justin Theroux, Amy Brenneman, Christopher Eccleston, Liv Tyler
Staffel Eins: 10 Folgen à 50-60 Min.
Episodenlänge: 50-60 Min.
Verfügbar auf: Sky

culturshock-Wertung: 9/10

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