Film

Filmkritik: The Kindness of Strangers

BERLINALE WETTBEWERB: Immer noch nicht die angestrebten 50, aber immerhin 41 Prozent der Wettbewerbsfilme auf der diesjährigen Berlinale sind unter weiblicher Regie entstanden. Den Anfang machte der Eröffnungsfilm The Kindness of Strangers der Dänin Lone Scherfig. Und auch das heißt schon was: In den 18 Jahren der Festival-Leitung unter Dieter Kosslick stammt gerade mal ein weiterer Eröffnungsfilm von einer Regisseurin (Isabel Coixet, die auch in diesem Jahr wieder dabei ist). Doch Grund zum Jubel hatte man nach Scherfigs Film leider nur bedingt.

The Kindness of Strangers

Clara (Zoe Kazan) und Marc (Tahar Rahim)

Flucht nach New York

Der Titel ließ viel vermuten und auch befürchten. Auf die Freundlichkeit von Fremden will man nicht unbedingt angewiesen sein müssen in einer Welt, in der häufig von Vereinzelung, Einsamkeit und mangelnder Zivilcourage die Rede ist. Zudem liegt bei dem Titel die Assoziation mit einem anderen Film nahe: Endstation Sehnsucht (1951), Elia Kazans Verfilmung von Tennessee Williams‘ gleichnamigen Theaterstück. Am Ende haucht die sehr in Mitleidenschaft gezogene Heldin Blanche DuBois die Worte aus: „Ich habe mich immer auf die Freundlichkeit von Fremden verlassen.“ Dann wird sie in die psychiatrische Klinik gebracht.

Eine mitgenommene Heldin präsentiert uns auch Lone Scherfig. Clara (Zoe Kazan) ist Mutter zweier Söhne und Opfer häuslicher Gewalt. Sie hat sehr jung geheiratet, ist nicht erwerbstätig, aber lebt in so großer Angst vor ihrem Mann Richard, dass sie zu Beginn des Films ihre beiden Söhne kurzerhand ins Auto packt und nach New York fährt. Ohne Geld, Aussicht auf eine Unterkunft oder einen Job. In den kommenden Tagen bringt sie sich und ihre Jungs mit Diebstahl, Zechprellerei und Lügen durch, bis sie ohne Auto dasteht und ihr Mann ihr dicht auf den Fersen ist.

Ein gezwungener Ensemblefilm

The Kindness of Strangers

Der falsche Russe Timofey (rechts: Bill Nighy) und einer von Claras Söhnen

Doch was für ein abendfüllendes Drama schon an Themen ausgereicht hätte, reicht Lone Scherfig nicht, die für The Kindness of Strangers auch das Drehbuch schrieb. Drei weitere Charaktere drängen in den Vordergrund und auch in Claras Leben. Zum einen ist da Ex-Knacki Marc (Tahar Rahim), dem vor kurzem spontan die Leitung eines heruntergewirtschafteten russischen Restaurants übergeben wurde. Dabei ist er ebenso wenig Russe wie der dort beschäftigte Brite Timofey (immer ein Lichtblick: Bill Nighy).

Währenddessen verliert der tollpatschige Jeff (Caleb Landry Jones) jeden seiner schlechtbezahlten Jobs, bis er sich nicht einmal mehr die schäbige Schuhbox, die er Appartement nennt, leisten kann. Und dann wäre da noch Alice (Andrea Riseborough), eine recht einsame New Yorker Krankenschwester mit einem Herz aus Gold. In ihrer spärlichen Freizeit tut sie nichts lieber als in einer Suppenküche für Obdachlose auszuhelfen und nebenbei noch eine Selbsthilfegruppe mit dem Thema ‘Vergebung’ zu leiten. Warum gerade Alice in diesem Thema bewandert ist, erfahren wir nicht. Es bleibt auch offen, weshalb sich die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe schuldig fühlen. Es war wohl keine Zeit.

Das mag daran liegen, dass Lone Scherfig in diesem Ensemblefilm viel anpackt, aber wenig wirklich auspackt. So verhält es sich mit den Gesprächen innerhalb der Selbsthilfegruppe, mit Alices nicht näher erforschten Einsamkeit (ein langes Single-Dasein erklärt nicht alles) und Marcs gelegentlichem Geschmolle. Und leider erkennt man im Verlauf des Films, dass es all diesen Charakteren an Tiefe fehlt. Sie tragen keine Widersprüche in sich, sind ganz klar und vollends auf der ‚guten‘ Seite und damit leider so uninteressant wie realitätsfern. Die Wendungen im Plot wirken entsprechend aufgezwungen, unwahrscheinlich und nicht nachvollziehbar. Und als man meint einen bitteren Handlungshöhepunkt erahnen zu können, entschärft Scherfig auch diesen. Die Absicht war wohl, nicht in absehbare Erzählstrukturen zu verfallen – aber leider löst sich The Kindness of Strangers dann gänzlich in Wohlgefallen auf.

Freundliche Fremde in einem Wintermärchen

Wohlwollend könnte man sagen, dass der Titel dieses Films sein Versprechen hält. Lone Scherfig zeigt uns freundliche Fremde, die sich finden und umeinander kümmern, bis alle Probleme gelöst sind. Ein weniger wohlwollendes Urteil wäre: Lone Scherfig hat einen wirklich großartigen Cast an aufstrebenden Schauspielern (insbesondere Tahar Rahim und Caleb Landry Jones) verschwendet und wuchtige soziale Themen wie häusliche Gewalt, das Justizsystem, Obdachlosigkeit nur gestreift, statt sie anzupacken und ans Licht zu zerren.

Und das ist schade, weil man wiederholt erahnt, was sie als erfahrene Regisseurin (mein Lieblingsfilm von ihr ist An Education) auch aus diesem Film hätte herausholen können. Etwa als Marc, der sich in Clara verguckt hatte, ohne ihre schwierige Situation zu kennen, dieser später im Film wiederbegegnet. Er sieht sie und ihre Söhne und registriert, dass sie alle drei etwas derangiert aussehen. Er bleibt stehen, blickt nochmal um sich, zögert, geht weiter. Und man bedauert, dass er nicht sofort ungefragt seine Hilfe anbietet und versteht es zugleich. Dies ist einer der realitätsnäheren Momente in diesem lauen Wintermärchen. Und die Erkundung dieser Realität wäre deutlich interessanter gewesen.

The Kindness of StrangersThe Kindness of Strangers

Dänemark, Kanada, Schweden, Deutschland, Frankreich, 2019
Regie&Drehbuch: Lone Scherfig
Besetzung: Zoe Kazan, Andrea Riseborough, Tahar Rahim, Caleb Landry Jones, Jay Baruchel, Bill Nighy
112 Min. Kinostart Deutschland: unbekannt
Berlinale 2019 – Wettbewerb

culturshock-Wertung: 5/10

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