Film

Filmkritik: Il Traditore

In zweieinhalb spannenden Stunden fokussiert Il Traditore den Kronzeugen, der der sizilianischen Mafia als Verräter gilt, sich selbst aber als letzten Ehrenmann der Cosa Nostra verstand.

Die Cosa Nostra ist für immer. Die Cosa Nostra ist geduldig. Man verlässt die Cosa Nostra nicht. Was diese drei Prinzipien bedeuten und die Abkehr von ihnen nach sich zieht, erläutert Marco Bellocchios Drama Il Traditore nach einem wahren Fall: 1986 fand im sizilianischen Palermo der sogenannte Maxi-Prozess gegen 475 Mitglieder der wohl ältesten italienischen Verbrecherorganisation statt. 360 Schuldsprüche, einige davon lebenslänglich, waren das Ergebnis. Dies wäre ohne das umfassende Geständnis des ranghohen Mitglieds Tommaso Buscetta nicht möglich gewesen. Im vergangenen Jahr befasste sich schon die (inzwischen auf Netflix) verfügbare Doku Der echte Pate mit den Folgen, die Buscetta und seine Familie nach diesem Bruch der Omertà zu erdulden hatten. Bellocchios Drama fragt hingegen, was den Mafioso überhaupt erst zur Kooperation mit der Polizei bewogen haben mag.

“Boss der zwei Welten”

Il Traditore setzt dafür im Jahr 1980 an, als der Mittsechziger Tommaso (Pierfrancesco Favino) schon lange ein gemachter Mann innerhalb der Cosa Nostra war. Im schneidigen weißen Anzug führt er die Aufsicht bei einem wichtigen abendlichen Treffen. Die rivalisierenden Cosa-Nostra-Bosse aus Palermo und Corleone teilen bei diesen Festivitäten den gewinnbringenden Heroinhandel unter sich auf.

Tommaso, der dem Clan um Palermo angehört und aufgrund seines dauerhaften Wohnsitzes und entsprechender Wirkmacht in Brasilien als „Boss der zwei Welten“ gilt, plagen an diesem Abend aber private Sorgen. Seine dritte, deutlich jüngere Ehefrau Cristina (Maria Fernanda Candido) dringt auf ihn, seine beiden erwachsenen Söhne aus seiner früheren Ehe mit nach Brasilien zu nehmen. Davon will Tommaso, der sich auf der Flucht vor italienischen und amerikanischen Ermittlern in Brasilien ein idyllisch-luxuriöses Leben aufgebaut hat, nichts wissen. Und auch als kurz nach dem scheinbaren Schulterschluss zwischen den beiden Cosa Nostra-Bossen eine grausige Gewaltserie Sizilien heimsucht, bleibt dieses Idyll noch einige Zeit unberührt. Bis dramatische Todesnachrichten Tommaso erreichen und ihn schließlich ein brasilianisches Sondereinsatzkommando aus seinem Haus zerrt.

Pentito?

Il Traditore Cosa Nostra

Richter Falcone (Fausto Russo Alesi) befragt Tommaso (Pierfrancesco Favino)

Dieser erste Akt von Il Traditore, der in unerwartet harschen Szenen körperlicher und seelischer Folter endet, zieht bereits durch die dynamische, nüchterne Inszenierung in den Bann. Sehr schnell kristallisiert sich aber Tommaso, von Pierfrancesco Favino mit durchgehend unbeeindruckter Gravitas gespielt, als strategisch agierende, niemals durchschaubare Figur heraus. Und so drängt Il Traditore uns auch keine eindeutige Erklärung dafür auf, warum Tommaso kurz nach seiner Auslieferung nach Italien beschließt zu reden. Schließlich hat er schon einige Gefängnisaufenthalte hinter sich, achtet den Schweigecode der Cosa Nostra und will auf gar keinen Fall als „pentito“ (Verräter) gelten. Was also bewegt ihn zur Kooperation mit den Ermittlern? Ist es der bezirzende Anruf seiner Frau, die sich inzwischen mit den jüngsten Kindern ins Zeugenschutzprogramm nach Florida begeben musste? Die beeindruckende Furchtlosigkeit des ermittelnden Richters Giovanni Falcone (Fausto Russo Alesi)? Oder die Trauer um seine Familienmitglieder, die dem Clan-Kampf in Palermo jüngst zum Opfer gefallen sind?

Ehrenmann?

Zu all diesen Faktoren gesellt sich ein weiterer hinzu, den Il Traditore im Folgenden indirekt verhandeln wird: eine sehr spezielle Auffassung von Ehrenhaftigkeit. Worüber Richter Falcone in den aufschlussreichen Geständnisgesprächen mit Tommaso zunächst verächtlich die Nase rümpft, erläutert dieser mit scheinbarer Inbrunst. Er sei ein Ehrenmann und als solcher von der ‚alten‘ Cosa Nostra geschätzt worden. Als Beschützer der Armen habe sich diese einst verstanden, bevor der Heroinhandel ins Spiel kam. Man habe Frauen, Kinder und Unbeteiligte verschont und sei mit Geduld und Präzision vorgegangen.

Als prägnantes Beispiel führt Tommaso einen Mordauftrag in Palermo an, den er über 20 Jahre lang nicht ausführen konnte, weil der sich des Auftrags bewusste Mann stets seinen Sohn bei sich hatte. An dieser archaischen Ehrauffassung hält Tommaso auch fest, als er 1986 beim tumultreichen Maxi-Prozess vor seinen ‚Ex-Kollegen‘ aussagt und ihnen in die erzürnten Gesichter schleudert, dass nicht er die Cosa Nostra verraten habe, sondern sie.

Porträt in sanften Strichen

Il Traditore Cosa Nostra

Tommaso als Kronzeuge vor Gericht

Zwanzig Jahre umspannt die Geschichte, die Bellocchio in den zweieinhalb Stunden Laufzeit von Il Traditore überraschend kurzweilig erzählt. Wir begleiten Tommaso von Brasilien in seine Heimatstadt Palermo, die ihn als Verräter brandmarkt, zum Maxi-Prozess, den man für überzogen inszeniert halten könnte, wenn nicht Originalaufnahmen die skurrile Unordnung im Gerichtssaal belegen würden. Und schließlich gleitet Il Traditore in die schwierige, unstete Existenz von Tommaso im amerikanischen Zeugenschutzprogramm über. Ein glasklares Bild von der Persönlichkeit Tommaso Buscettas lässt sich am Ende nicht feststellen. Über dessen dunklere Seiten erfährt man mehr in der eingangs erwähnten Doku Der echte Pate, die sich als Ergänzung zu diesem Drama empfiehlt.

Aber ein genaues Durchdringen von Buscettas Persönlichkeit scheint auch gar nicht Bellocchios Ziel gewesen zu sein. Vielmehr hält Il Traditore seine Distanz, spricht kein finales Urteil und porträtiert Buscetta, wenn überhaupt in sanften, zurückhaltenden Strichen. Umso klarer tritt dadurch das eigentliche Thema von Il Traditore hervor: Ehrenhaftigkeit – und inwiefern sie in einem blutigen System überhaupt existieren kann.

Il Traditore Cosa NostraIl Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

Italien / Frankreich / Deutschland / Brasilien 2019
REGIE: Marco Bellocchio
DREHBUCH: Marco Bellocchio, Ludovica Rampoldi, Valia Santella, Francesco Piccolo
KAMERA: Valdan Radović
BESETZUNG: Pierfrancesco Favino, Maria Fernanda Candido, Fabrizio Ferracane, Luigi Lo Cascio, Fausto Russo Alesi, Nicola Calì, Giovanni Calcagno
153 Min. Kinostart Deutschland: 13. August 2020

culturshock-Wertung: 7/10

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