Film

Filmkritik: Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

Im Großen und Ganzen fehlt es Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden an Kohärenz – im Kleinen und Besonderen ist dieser Film aber eine empfehlenswert schonungslose schwarze Komödie.

Ein Notizbuch voller Wahnsinn

Nach Reden ist der Verlegerin Helga (Pilar Castro) wirklich nicht zumute, als sie die lange Zugfahrt nach Madrid antritt. Soeben hat sie ihren Verlobten Emilio (Quim Gutiérrez) in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen – von den seltsamen Umständen werden wir noch erfahren. Doch der Mann, der sich ihr gegenüber setzt, plaudert dennoch frei drauflos und Helga wird ganz bald Ohr. Ángel (Ernesto Alterio) heißt er und als Psychiater ist er bestens mit den Psychosen der Anstaltspatienten vertraut. Einige ihrer Geschichten hat er in einem abgewetzten roten Notizbuch dabei und mit der seines Erachtens nach Absonderlichsten steigen wir gleich ein in Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden.

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

Traut ihren Ohren nicht: Helga (Pilar Castro)

Diese handelt von einem Mann namens Martin Urales de Úbeda (Luis Tosar), der als spanischer Soldat im Kosovo-Krieg stationiert war. Dort verliebte er sich prompt in die engagierte Ärztin Doktor Limares. Diese leitete ein Kinderkrankenhaus, das sich über einen grausigen Handel finanzierte, in den hohe Tiere aus der Nato involviert waren. Man merkt, die Geschichten des Zugreisenden nehmen unvorhersehbar düstere Wendungen. Womit uns der spanische Regisseur Aritz Moreno gleich im ersten seiner vier Kapitel umfassenden Verfilmung des Romans von Antonio Orejudo vertraut macht, ist schon reichlich schwere Kost, die mit schwarzhumoriger Leichtigkeit serviert werden will. Und dann erfährt man plötzlich, dass alles aus dieser ersten Geschichte ganz anders war, denn die Auskünfte von Anstaltspatienten sind nun mal nicht immer hoch verlässlich.

Originell, aber inkohärent

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

Was hat dieser Müllberg zu bedeuten? Alles. Und nichts.

Ineinander greifende Erzählepisoden, wie sie in Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden präsentiert werden, haben natürlich immer ihren Reiz, da sie dem Publikum zum einen Abwechslung und originelle Übergänge bieten können. Zum anderen, und darin äußert sich dann ihre Durchdachtheit, können sie sich zu etwas kohärent Profundem zusammenfügen, das über das Erzählen einer einzelnen Geschichte ohne Abschweifungen niemals hätte erreicht werden können. Die Kohärenz wird in Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden vor allem stilistisch hergestellt. Alle Geschichten werden in einem bläulich-kräftigen Farbspektrum erzählt und haben Ausstattungseigenheiten, die an die Detailverliebtheit eines Wes Anderson denken lassen. Zudem lässt die Kameraarbeit von Javi Agirre Erauso die Bilder schon mal bei Perspektivwechseln einen Kopfstand vollführen, was sich in diese Geschichten zwischen Wahn und Wirklichkeit elegant einfügt. Und doch können diese visuellen Vorzüge nicht davon ablenken, dass es den Episoden erzählerisch im weiteren Verlauf an einem klaren Verbindungspunkt fehlt.

Abgründiges und Abstoßendes

Durch diese Verbindungslosigkeit ist der Schockeffekt umso größer, als uns das zweite Kapitel die Geschehnisse um Helga und ihren Verlobten Emilio schildert. Die beiden lernen sich im Park kennen, als sich ihre Hunde spontan paaren. Aus der Zufallsbegegnung (zwischen Helga und Emilio) wird bald eine zarte Romanze, der sich Helga, die vormals der Liebe abgeschworen hat, vollends hingibt. Und dann mündet das ganze in eine so absonderliche wie abstoßende Obsession, deren drastische Inszenierung die Altersbeschränkung für diesen Film erklärt (sowie den vorzeitigen Abgang einiger Kinogäste bei der Premiere in der Hasenheide).

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

Emilio (Quim Gutiérrez) mag Hunde. Mehr als dieses Bild und der gesunde Menschenverstand vermuten lassen.

Zugleich ist diese Episode um Helga aufgrund ihrer kompromisslosen Drastik die wohl eindrücklichste und gelungenste aus Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden. Generell spricht vieles für dieses Spielfilmdebüt von Aritz Moreno: die überragenden Darsteller, eine völlige Hingabe zu einem schwarzen Humor, der das reale Grauen niemals gänzlich übertünchen will und Morenos beherztes Spiel mit Horror- und Splatterelementen. Die Neigung zu letzterem konnte man bereits einigen seiner preisgekrönten Kurzfilme wie Cólera (2013) und Portal Mortal (2004) entnehmen.

Eingeschränkt empfehlenswertes Wagnis

Damit ist Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden wohl einer jener Filme, der die Gemüter spaltet und Kritiker sich pikiert abwenden oder applaudieren lässt. Und wer auf die Einhaltung der so berühmten wie nicht näher definierten ‚Grenzen des guten Geschmacks‘ Wert legt, verzichtet vielleicht lieber auf diesen Film. Allen übrigen sei er als etwas unstimmiges aber sehenswertes Erlebnis empfohlen, das mit sehr einprägsamen Szenen und Wendungen im Gedächtnis bleibt und auf weitere so gewagte Werke von Aritz Moreno hoffen lässt.

Die obskuren Geschichten eines ZugreisendenDie obskuren Geschichten eines Zugreisenden

(Original: Ventajas de viajar en tren)
Spanien, Frankreich 2019
REGIE: Aritz Moreno
DREHBUCH: Javier Gullón (nach dem Roman von Antonio Orejudo)
KAMERA: Javi Agirre Erauso
BESETZUNG: Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio, Quim Gutiérrez, Belén Cuesta, Macarena García, Javier Godino, Stéphanie Magnin, Ramón Barea, Alberto San Juan
103 Min. Kinostart Deutschland: 20. August 2020

culturshock-Wertung: 7/10

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