Film

Filmkritik: El prófugo / The Intruder

BERLINALE – WETTBEWERB. Die argentinische Drehbuchautorin und Regisseurin Natalia Meta lehrt uns mit ihrem Noir-Psychodrama El prófugo bzw. The Intruder das Fürchten in einer akustikfokussierten Welt.

Es ist interessant, was Angst mit einer Stimme macht, wie sie sie verzerrt, ins Kreischende treibt, ins Hechelnde und Atemlose. Synchronsprecherin und Sopranistin Inés (Erica Rivas) weiß, was sie mit ihrer Stimme anstellen muss, um sie der ums nackte Überleben kämpfenden Figur in einem japanischen Psychothriller zu verleihen. Und sie weiß, dass ihr ganzer Körper auf diese Stimme einwirkt, dass sie die Bewegungen der Figur ansatzweise nachahmen muss, um ihr stimmlich gerecht zu werden. Und so sehen wir Inés zu Beginn von El prófugo im blauen Licht des Projektors und wie sie sich angsterfüllt die Hände vors Gesicht hält. Doch auch nach Feierabend ist diese Angst nicht gänzlich verflogen.

Dabei läuft es gut für Inés: Mit ihrem neuen Freund Leopoldo (Daniel Hendler) macht sie sich auf den Weg in einen Kurzurlaub in Chile. Und Leopoldo könnte nicht angetaner von ihr sein. Als sie im Flugzeug mitten in einem Alptraum um sich schlägt, ist er da für sie. Und auch ihre Panikattacke beim Ausflug in eine Tropfsteinhöhle bringt ihn nicht aus der Fassung. Er liebt sie und das sagt er ihr auch. Nur als sie dies mitten in der Nacht im Hotelzimmer nicht erwidert, geht etwas schief und Leopoldo ist kurz darauf tot.

El prófugo The Intruder Berlinale

Wenn man als einzige im Chor die Töne nicht trifft: Inés (Erica Rivas)

Tonlage eines Traumas

Dies ist der verlängerte Vorspann von Natalia Metas zweitem Spielfilm, der lose auf dem Horror-Roman El mal menor („Das kleinere Übel“) des argentinischen Schriftstellers C.E. Feiling (1961-1997) beruht. Ein Roman, der Meta so sehr am Herzen lag, dass sie ihn in ihrem eigenen Verlag herausbrachte, nachdem er vergriffen war. In der Pressekonferenz zu El prófugo beschrieb sie ihre Faszination mit den darin verhandelten Übergängen zwischen Traumwelt und Realität – eine Beziehung, die auch in ihrem Film eine zentrale Rolle spielt.

Denn obwohl sie sich nach außen nicht den Anschein geben will, leidet Inés sehr unter dem plötzlichen Tod von Leopoldo. Dies äußert sich zunächst in Problemen mit ihrer Stimme. Im Chor kann sie kaum noch hohe Töne halten und wird vom Maestro zu den Mezzo-Sopranistinnen abgestuft. Und im Synchronisationsstudio stellt Toningenieur Nelson (Agustín Rittano) zunehmend seltsame Geräusche und Stimmen fest, die sich in Inés‘ Aufnahmen schmuggeln. Hinzu kommt, dass sich die Alpträume, die Inés seit ihrer Kindheit den Schlaf rauben, intensivieren. Nicht einmal die Ankunft ihrer exzentrischen, aber fürsorglichen Mutter Marta (die grandiose Cecilia Roth) bringt ihr Ruhe. Und kein Arzt kann Probleme an ihren Stimmbändern feststellen, ganz zu schweigen von Herzfrequenzstörungen, die die Aufnahme beeinflussen könnten.

El prófugo The Intruder Berlinale

Reter oder EIndringling? Organist Alberto (Nahuel Pérez Biscayart)

Der Sound von Noir

Natalia Meta führt uns mit El prófugo in eine akustikfokussierte Welt und verbindet dabei die Welt der Töne mit tiefliegenden Traumata und Intimitätsängsten ihrer Protagonistin, deren Leben aus dem Takt gerät. Mit intensiven Farbspielen und tiefen, beängstigenden Sounds wird in diesem zwischen Psychohorror und Noir-Drama schillernden Film nach und nach die Wurzel von Inés‘ innerem Kampf enthüllt. Zugleich wird immer ungewisser, was noch Traum oder schon Realität ist. Nachdem Inés Alberto (Nahuel Pérez Biscayart), einen jungen Organisten, zaghaft in ihr Leben lässt, steuern wir auf ein fulminantes, alles auf den Kopf stellendes Finale zu. Ein außergewöhnlicher Film voller Symbolkraft und großartiger Momente. Trotz einiger zum Schluss hin vernachlässigter Erzählelemente hätte ich ihn mir nach dem Abspann gleich ein zweites Mal ansehen können.

El prófugo The Intruder BerlinaleThe Intruder

(Original: El prófugo)
Argentinien / Mexiko, 2020
REGIE & DREHBUCH: Natalia Meta
KAMERA: Bárbara Álvarez
BESETZUNG: Erica Rivas, Daniel Hendler, Cecilia Roth, Nahuel Pérez Biscayart, Agustín Rittano, Mirta Busnelli
90 Min. Kinostart Deutschland: unbekannt
Gesehen auf der Berlinale 2020 – Wettbewerb

culturshock-Wertung: 9/10

Share: