Film

Filmkritik: 20.000 Days on Earth

Bis auf den letzten Platz hat sich der große Saal des Kino International am frühen Abend des 10. Februar gefüllt und in einem unbeobachteten Moment hat es sich auch Nick Cave in der hintersten Sitzreihe bequem gemacht, dem nun immer wieder verstohlene, teils ungläubige Blicke (unter anderem von mir) zugeworfen werden. Schließlich sitzt da ein Künstler mit scheinbar unerschöpflichem kreativen Potenzial, dessen düstere Eleganz sich musikalisch, literarisch, gelegentlich auch schauspielerisch niederschlägt – und das seit über 30 Jahren!

Nein, das britische Künstlerduo Iain Forsythe und Jane Pollard brauchte nun wirklich keine Rechtfertigung für ihren Film über und mit Nick Cave – nur allerlei Überredungskunst, wie Cave später nach dem Screening berichtet. Schließlich seien die meisten Rockstar-Dokus etwas „tedious“, bemüht, geraten. Doch das Vertrauen zu Forsythe und Pollard überwog schließlich und führte zu einem fesselnden, genresprengenden Film über Caves Künstlerdasein, die transformierende Kraft der Kreativität und die Macht der Erinnerung.

Nick Cave Film

Vom Psychoanalytiker zu alten Gefährten

Die scheinbar eintägige Reise mit Nick Cave beginnt mit seinem Erwachen am 20.000. Tag seines Lebens, wie der Musiker uns selbst via Stimme aus dem Off informiert. Schreiben ist sein Tagwerk – Songs, Skizzen, die eine Welt voller Helden und Monster erschaffen. Fürs Songwriting müsste man mit Gegensätzen arbeiten, disparate Figuren aufeinander treffen lassen, etwa Unschuld mit Psychose konterkarieren. Während er dies mitteilt, ist Cave schon auf dem Weg zum Psychoanalytiker, der ihn zu seiner ersten Begegnung mit dem weiblichen Körper befragt. Cave erzählt, was ihm durch den Kopf geht – die Situationen sind gestellt, aber die Dialoge improvisiert. Cave holt aus, erzählt von seiner ersten Freundin, von seiner Kindheit, seinem Vater, der plötzlich verstarb, als Cave gerade mal 19 Jahre alt war. Eine verwirrende Zeit, resümiert er und der Analytiker beschließt zur rechten Zeit, das Gespräch zu beenden.

Wir folgen Cave, als er in einen Jaguar steigt und durch die britische Küstenstadt Brighton fährt, in der er mit seiner Familie lebt. Als Australier betrübe ihn das nüchterne britische Wetter schon manchmal, aber er habe noch keinen Himmel wie in Brighton erlebt, wo sich an der Küste unfassbar schöne Wolkenformationen bildeten. Allein ist Nick Cave während seiner Jaguar-Fahrten nicht, aus dem Nichts tauchen plötzlich alte künstlerische Weggefährten auf, der Schauspieler Ray Winstone etwa, der im Western The Proposition mitspielte, für den Cave das Drehbuch schrieb. Blixa Bargeld, ehemaliger Gitarrist von Nick Cave and the Bad Seeds, erzählt als Beifahrer von den Umständen seines Bandausstiegs. Und schließlich gibt sich auch Pop-Ikone Kylie Minogue die Ehre und erzählt von ihrer Kollaboration mit Nick Cave für den Song Where the Wild Roses Grow. Nick Cave erzählt, wie surreal der gemeinsame Auftritt bei Top of the Pops gewesen sei.

Moment der künstlerischen Transformation

Zwischen seinen Fahrten macht Cave Halt beim Haus von Warren Ellis, aktives Mitglied von Nick Cave and the Bad Seeds, mit dem er hausgemachte Fischsuppe zu Mittag isst und sich an einen legendären Auftritt einer herrischen Nina Simone erinnert, die bei einem Gig nach ihnen auftrat. Champagner, Koks und Würstchen habe sie vom Manager verlangt, bevor sie auf die Bühne ging und das Publikum verächtlich niederstarrte – doch sei ihre Performance großartig gewesen, berichtet Nick Cave und kommt darauf zurück, was er bereits zuvor als den ‚transformierenden Moment‘ im Leben jedes Menschen beschrieb: Der Moment, in dem die kreative Verkörperung uns zu dem Menschen werden lässt, der wir immer sein wollten. Er habe diesen Moment bei seinem Vater miterlebt, als ihm dieser aus Vladimir Nabokovs Lolita vorlas, und er durchlebe ihn selbst jedes Mal, wenn er auf der Bühne stehe.

Es sind zum einen solche Erkenntnisse, die 20.000 Days on Earth zu einem faszinierenden filmischen Erlebnis machen. Zum anderen sind es die Erinnerungen an legendäre Zeiten, etwa als der Musiker das ‚Nick Cave-Archiv‘ (eigentlich in Melbourne verortet, aber für die Aufnahmen kurzzeitig nach Brighton verlegt) besucht und den Archivaren und uns erklärt, woher einige der seltsamen Ausstellungsobjekte tatsächlich stammen und wie das damals war, als ein Konzertbesucher von Caves Band The Birthday Party auf die Bühne stieg und darauf urinierte, bis er vom Gitarristen zusammengeschlagen wurde.

Der Wert der Zeit

Und dennoch driftet 20.000 Days on Earth niemals in eine profane Anekdotensammlung ab, dafür ist der Ausgangspunkt zu ernst, wie Cave gegen Ende verdeutlicht: Unsere Tage auf dieser Erde seien gezählt, er habe keine Zeit für Müßiggang. Und die in den Film geschnittenen beeindruckenden Live-Performances zum jüngsten Album Push the Sky away, die Art, wie Nick Cave mit dem Konzertpublikum interagiert und einen Saal in emotionale Höhen und Tiefen katapultiert, zeigen, dass dieser Mann weiß, wovon er redet.

Ob collagenhaftes Künstlerporträt, Doku-Drama oder, wie die Produzenten es umschreiben, “die Beobachtung eines realen Verhaltens in fiktionalen Räumen” – letzten Endes passt 20.000 Days on Earth in keine bereits vorhandene Genreschublade, sondern ist ein hybrides Gemenge aus Fakt, Fiktion und raffinierten Untermalungseffekten. Diese ranken sich um ein Leben, dessen hier dargestellte Essenz die Zuschauer – ob Fans oder nicht – restlos zu begeistern schien.

Nick Cave Film20.000 Days on Earth

Großbritannien 2013

Regie: Iain Forsyth & Jane Pollard

Hauptdarsteller: Nick Cave

95 Min.

Deutsche Premiere: 7. Februar 2014 auf der Berlinale

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