Film

Filmkritik: Finding Vivian Maier

Die flüchtigen Weggefährten Vivian Maiers, die in diesem Dokumentarfilm zu Wort kommen, sind sich mitunter nicht einig, ob die einstige Nanny und leidenschaftliche Fotografin nun lieber Viv oder Miss Maier genannt werden wollte, ob ihr französischer Akzent Fake oder echt war, ob sie Menschenfreund oder -feind war. Aber eines steht für sie alle fest: Vivian Maier war eine private Person. Sie verriegelte stets ihre Tür, scheute Körperkontakt und verriet Fremden nur ungern ihren Namen. Eine fast schon hingebungsvoll bewahrte Privatheit, die nun von der ziemlich selbstverliebten und sich pausenlos rechtfertigenden Doku Finding Vivian Maier ans Licht gezerrt wird. Der Kunst wegen, versteht sich.

Folgenreicher Zufallsfund

Die Geschichte, die der Film erzählt, beruht auf einem im Nachhinein als sensationell zu bezeichnenden Zufallsfund: John Maloof, zu der Zeit ein Makler Ende 20, ersteigert 2007 auf einer Auktion in Chicago eine Kiste voller unentwickelter Filmrollen. Er hofft, Fotografien für ein geplantes Buch über den Portage Park in Chicago zu finden. Die ersteigerten Filmrollen erweisen sich zwar als unbrauchbar für sein Buch, aber nachdem er einige davon entwickeln lässt, offenbart sich ihm nach und nach die künstlerische Qualität der Straßenaufnahmen aus den 1950ern und 60ern. Maloof spürt den Namen der Fotografin auf, recherchiert diesen online und findet: nichts. Er scannt die ihm vorliegenden Fotos ein und veröffentlicht sie in einem Blog, der alsbald begeisterte Kommentare erhält. Er forscht weiter und bleibt erfolglos bis zum April 2009, als in der Chicago Tribune schließlich ein Nachruf zu Vivian Maier erscheint, die inzwischen 83-jährig „friedlich“ in Chicago verstorben ist.

Dies alles schildert uns Maloof vor der Kamera, nachdem er sich zunächst vorstellt und damit brüstet, durch seine langjährige Flohmarkterfahrung auf einige Hundert Meter Entfernung Wertvolles von Schrott unterscheiden zu können. Maiers Fotos scheinen dem Laien wertvoll, obwohl sein Versuch, sie ans renommierte Museum of Modern Art zu vermitteln, erfolglos bleibt. Und so macht sich der Film, den Maloof über Kickstarter finanzieren ließ, daran, das Rätsel um die rätselhafte Vivian Maier zu lösen. Als Maloof und der Produzent Charlie Siskel schließlich erste Bekannte von Maier ausfindig machen, stellt sich heraus, dass sich die Hobby-Fotografin jahrzehntelang in New York und Chicago als Kindermädchen verdingt hat. Im Film wird dies als schier unfassbare Entdeckung zelebriert, zeugen doch die Aufnahmen Maiers von einem großen Talent und lassen auf eine sensible Künstlerseele schließen.

Die Spionin mit der Rolleiflex

Und tatsächlich sind viele der im Film gezeigten Straßen- und Selbstportraits Maiers faszinierende Momentaufnahmen, die heute eine berührende Nostalgie versprühen und im Betrachter unmittelbar eine Reaktion auslösen. Die ehemaligen Arbeitgeber und Schützlinge, die die Doku vor die Kamera bringt, zeigen sich in den Gesprächen ebenso erstaunt über Maiers Werk. Sie habe zwar pausenlos fotografiert, wenn sie mit den ihr anvertrauten Kindern Spaziergänge machte, aber offenbar niemandem ihre Fotos gezeigt.

Die weiteren Gespräche enthüllen das Selbstbild Maiers und ihre Arbeitsweise. So sah sie sich offenbar gern als eine Art Spionin, die in den Straßen von New York und Chicago möglichst unentdeckt Aufnahmen von Menschen aller Milieus machte. Das heimliche Fotografieren ermöglichte ihr ihre Rolleiflex, eine zweiäugige Spiegelreflexkamera, die aus der Bauchperspektive heraus, abseits der Augenhöhe, bedient wurde und dabei sehr leise war. Dennoch, so entnimmt man vielen der im Film gezeigten Aufnahmen, müssen sich viele von Maiers Motiven doch bewusst gewesen sein, dass sie fotografiert wurden. Sie blicken dem Betrachter mit Misstrauen, Verwunderung oder Gefälligkeit in die Augen.

Forsch oder voyeuristisch?

Finding Vivian Maier rekonstruiert zunächst mit scheinbar begründetem Interesse dieses jahrzehntelange ‚Doppelleben‘ Maiers als unterbezahltes Kindermädchen und hochtalentierter Künstlerin über das gezielte Erfragen ihrer Lebensumstände und die chronologisch angeordneten Fotografien. Doch nach und nach überschreitet der Film erste moralische Grenzen, als es etwa darum geht, die Persönlichkeit Maiers zu erfassen. Als exzentrisch und launisch wird sie beschrieben. Manche der von ihr gehüteten Kinder gehen noch weiter und sprechen von einer ‚dunklen Seite‘, die sie ihnen mitunter zeigte. Und ins unangenehm Voyeuristische driftet die Doku ab, als sie ihren sich wandelnden Geisteszustand erforscht. Die Massen an Zeitungsstapeln und Nippes, die Maier im Laufe ihres Lebens aufhebt, werden zum Beleg für krankhaftes ‚hoarding‘, das irgendwann außer Kontrolle gerät und sie in einem Fall den Job kostet. Und auch ihr generelles Misstrauen gegenüber Menschen muss der Film näher erkunden, bis er auf schmerzhafte Spekulationen trifft.

Lage für Lage wird die Person Vivian Maier entblößt, und die sich aufdrängende Frage, ob ihr das recht gewesen wäre, wird von John Maloof zwar selbst immer wieder im Verlauf des Films thematisiert, doch letzten Endes zu seinen Gunsten beantwortet. Schließlich bringt er als Argument hervor, dass Maier die Veröffentlichung ihrer Werke doch gefreut hätte und presst diese Aussage auch aus einigen der Interviewten heraus. Dennoch lässt diese Doku den Zuschauer etwas schuldbewusst im Kinosessel zurück, schließlich sind es ganz bestimmt nicht die konventionellen Erzählmittel, die einen fasziniert zurücklassen, sondern das Thema: Eine Frau, deren selbstgewählter Rückzug sie vermutlich vereinsamen ließ, die aber Trost in der Kunst fand – und vermutlich auch in deren Verborgenheit.

Finding Vivian Maier

Finding Vivian Maier

USA 2014
Regie & Drehbuch: John Maloof, Charlie Siskel
Kamera: John Maloof
88 Min. Kinostart Deutschland: 26. Juni 2014

culturshock-Wertung: 6/10

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