Buch

Bücherkritik: Reclams 100Seiten-Reihe

Mit der Allgemeinbildung im digitalen Zeitalter ist es so eine Sache: Unendlich viele Informationen stehen uns zur Verfügung, wir können uns in wenigen Sekunden dringend benötigte Informationen ergooglen (oder ‚bingen‘) und haben sogar Zugriff auf Daten zu komplexeren Themen. Doch sind wir dadurch wirklich gebildeter, gar klüger geworden? Dies zu erörtern, würde hier zu lange dauern – womit wir zum Kern des Problems vorstoßen: Der unendlichen Informationsfülle des Internet steht der starke Informationsdruck dieser Zeit entgegen. Dieser treibt uns dazu, die schnell beschaffte und ebenso schnell wieder vergessene Neuigkeit der gründlichen, beständigen Informiertheit vorzuziehen. Der Sachbuchmarkt hat dieses scheinbare Dilemma der schwindenden Zeit für tiefere Bildung schon vor Jahren erkannt. Damit wir beim Party-Small Talk nicht allzu doof dastehen, wurden uns aberwitzig betitelte Werke wie Dietrich Schwanitz‘ Bildung. Alles, was man wissen muss oder Bill Brysons Eine kurze Geschichte von fast allem gereicht. Für demütigere und sich eher monothematisch orientierende Leser gibt es die Für Dummies-Reihe, die sich seit 1999 einfach allem, vom 3D-Druck bis zu den Tempelrittern, widmet – und zwar möglichst unkompliziert und ohne vorausgesetztes Vorwissen. Nun dringt auch der Traditionsverlag Reclam in eine ähnliche Richtung vor und liefert uns die 100 Seiten-Reihe zu politischen, wissenschaftlichen und (pop)kulturellen Themen.

100 Seiten Bildung

Die 100-Seiten-Reihe von Reclam umfasst zunächst zehn Bände, die sich je einem Thema von aktueller Relevanz auf je 100 Seiten widmen und uns einen Einstieg, Überblick und die zur Pflicht gewordene „schnelle Information“ bieten wollen. In je 100 Minuten sollen diese wohlgestalteten Bändchen lesbar sein, die so gar nicht an die verhassten gelben Heftchen aus der Schulzeit erinnern. Die Thematik der ersten zehn Bände reicht vom Biografischen (Jane Austen, John F. Kennedy, David Bowie) übers Politisch-Historische (Menschenrechte, Reformation), Wissenschaftliche (Ötzi) zum Popkulturellen (Superhelden, Asterix, Twin Peaks) – eine breit gestreute Auswahl, die viele interessierte Leser erreichen dürfte. Doch hält der Inhalt, was das Marketing verspricht? Kann der vom Informationswahn geplagte Leser hier tatsächlich in ein ihn brennend interessierendes Thema einsteigen und dieses nach dem Lesekonsum besser begreifen? Es folgt ein Selbstversuch mit drei nach Interesse ausgewählten Bänden, absteigend sortiert nach meinem Vorwissen zur jeweiligen Thematik: Twin Peaks, David Bowie, Superhelden.

Gunther Reinhardt: Twin Peaks. 100 Seiten

Die Aktualität dieses Themas dürfte auf der Hand liegen: Anfang 2017 soll die TV-Serie Twin Peaks fortgesetzt werden, nachdem sie 1991 nach nur zwei Staffeln ein abruptes Ende gefunden hatte. Die Macher von Twin Peaks, Mark Frost und David Lynch, wurden sich damals mit dem TV-Sender ABC nicht einig über die Vision für die Serie, die bis dato eine treue Fangemeinde und Kritiker begeistert hatte.

Wer sich auf diese Neuauflage (und den hoffentlich würdigen Abschluss) von Twin Peaks einstimmen möchte, für den dürfte Gunther Reinhardts 100seitige Abhandlung ideal sein: In zwölf Kapiteln knöpft sich Reinhardt das Wesentliche dieser für ausladende Erzählformen bahnbrechenden Serie an. Er skizziert ohne Umschweife die teilweise sehr vertrackte Handlung der zwei Staffeln und des nachfolgenden Spielfilms nach, wodurch sich die Lektüre klar an bereits mit der Serie Vertraute richtet (worauf Reinhardt in der Einleitung auch fairerweise hinweist). Nachdem er sich den skurrilen Hauptcharakteren widmet, geht Reinhardt in den nachfolgenden Kapiteln den Elementen nach, die zur besonderen „Traumästhetik“ von Twin Peaks beitragen: Lynchs Obsession mit dem „Abscheulich-Schönen“, dem Abgrund, der unter der idyllischen Oberfläche lauert, kommt hier ans Licht und es wird erkundet, aus welchen literarischen, filmischen und künstlerischen Einflüssen er bei der Erschaffung von Twin Peaks geschöpft hat. Ebenso wird auf die Entstehungsbedingungen für Angelo Badalamentis Musikkompositionen für die Serie und die Konzeption des Settings eingegangen. Wer bis hierher der Versuchung widerstehen konnte, sich die ein oder andere Folge nicht nochmal anzuschauen, läuft Gefahr zu kapitulieren: Zu sehr verlangt es einem beim Lesen dieses treffenden Textes danach, nochmal dem mystischen Zusammenwirken von Skurrilität, Zärtlichkeit und Grausamkeit in Twin Peaks beizuwohnen. Den bei der Erstausstrahlung vorherrschenden, auch heute noch nachvollziehbaren Hype um die Serie weiß Reinhardt denn auch um die ein oder andere Anekdote zu belegen, etwa über Staatschefs, die dringend vor allen anderen darüber informiert werden wollten, wer denn nun der Mörder von Laura Palmer sei.

Twin Peaks. 100 Seiten ist mit vielen weiteren amüsanten Querverweisen, nützlichen Grafiken (z.B. ein alle amourösen und geschäftlichen Verbindungen darstellender Bewohner-Stammbaum) und Literaturtipps gespickt. Vor allem für letzteres gebührt Reinhardt Lob, da er es versteht, seine Abhandlung niemals zu sehr abschweifen zu lassen und für tiefergehende Analysen auf die entsprechenden Texte u.a. von Georg Seeßlen und Robert Fischer verweist. Eine rundherum gelungene (Wieder)Einstiegslektüre zur Serie.

Gunther Reinhardt:
Twin Peaks. 100 Seiten
Reclam. Leipzig, 2016
100 S., 7 Abbildungen. 10,00 Euro

Frank Kelleter: David Bowie. 100 Seiten

Mit einer persönlichen Schilderung des Kaufs seiner ersten David Bowie-Platte steigt Frank Kelleter, Professor für Nordamerikanische Kultur und Kulturgeschichte am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin, in seine Abhandlung über Bowie ein. Aber ‚Abhandlung‘, das klingt schon zu steril und zu nüchtern, um das zu beschreiben, was Kelleter hier auf nur 100 Seiten zu vermitteln vermag: Von der „glanzvollen Wirklichkeit inmitten schmutziger Alltagsszenarien“, die da vom Plattencover von The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars auf den jungen Käufer herabstrahlte, macht sich Kelleter in den nachfolgenden sechs, mit Songzeilen betitelten Kapiteln daran, David Bowies Werk und Wirken mit einem beachtlichen Feingefühl zu zerteilen und dem Leser mit Songzeilen, Beschreibungen seiner Musikvideos und biographischen Verweisen zu verabreichen.

Wer Bowies bekannteste Stücke kennt, aber noch nicht mit seinem Gesamtrepertoire vertraut ist, lernt hier die darin sich offenbarende Bowie‘sche Medientheorie kennen, die von einem sich in zahlreichen Songs widerspiegelnden „Transmissions-Gedanken“ geprägt ist. Auch auf die Erschaffung und schließlich Tötung der Kunstfigur Ziggy Stardust und Bowies Karriere als „introspektive Massenperformanz“ geht Kelleter ein, ohne jemals in starke Vereinfachungen abzudriften. Solche scheint der Autor generell abzulehnen, was in einem späteren Kapitel deutlich wird, das sich dem Ineinandergreifen von Biographischem und Künstlerischem in Bowies Werk und dem schwierigen Konzept der ‚Echtheit‘ in der Popkultur widmet: „Die billigste Deutung von Bowies Superstar-Image der 1980er Jahre erkennt im Chartserfolg von ‚Modern Love‘ und ‚China Girl‘ einen Verrat an der Subkultur […] Die zweitbilligste Deutung besagt, dass der neue – ‚gesunde‘ und ‚saubere‘ Bowie eigentlich nur eine weitere Rolle sei, eine Kostümierung wie Ziggy Stardust und Aladdin Sane.“ Statt der einen oder anderen Deutung zuzustimmen wählt Kelleter einen anderen Weg: Hier und da gesteht er einigen private Entwicklungen in Bowies Leben zu, Einfluss auf sein Werk gehabt zu haben, doch niemals werden plumpe Rückschlüsse gezogen – vielmehr versteht sich Kelleter darin, zu differenzieren und das enge Geflecht zwischen Bowies künstlerischen Einflüssen, seinem Lebensweg, seiner Vorliebe für die ‚Theatralik öffentlicher Masken‘ und echten Überzeugungen zu durchdringen.

Mit diesem Feingefühl gelingt es Kelleter im Verlauf dieser 100 Seiten dem Leser einen Eindruck von der Größe, Komplexität und – trotz aller Theatralik und Maskerade – Menschlichkeit von Bowies Werk zu verschaffen und ihn eine (erneute) Wehmut verspüren zu lassen, wenn es schließlich um Bowies Tod geht. Dieser wurde einige Monate nach der vorläufigen Vollendung von Kelleters Text verkündet. Doch sein letzter Satz trifft dann doch vollends die Unfassbarkeit von Bowies Abgang und blieb zum Glück erhalten. Ein gelungener Abschluss für diesen hochkonzentrierten und dennoch in einer Sitzung lesbaren 100Seiten-Band.

Frank Kelleter:
David Bowie. 100 Seiten
Reclam. Leipzig, 2016
102 S., 14 Abbildungen. 10,00 Euro

Dietmar Dath: Superhelden. 100 Seiten

Ein weites Feld hatte der ‚Gedanken- und Textgenerator‘ Dietmar Dath zu beackern: Superhelden, die längst aus den von eingefleischten Fans besuchten Comic-Buden emporgestiegen sind, um das Mainstream-Kino als Blockbuster-Garanten zu dominieren. Dass Dath noch ein Fan alter Schule ist, macht er in seinem Vorwort „Schule der Übermenschen“ deutlich. In diesem schildert er, woher die Faszination für Superhelden bei ihm rührte, wie sie auf dem Schulhof begann, durch eine Reise in die USA verstärkt wurde und ihn schließlich einiges übers Schreiben und Figuren-Erschaffen lehrte.

„Warum bedeutet dieses Zeug manchen Menschen so viel?“ und „Was ist dieses Zeug überhaupt für Zeug?“, lauten abschließend die zentralen Fragen, denen er sich nachfolgend widmet – in zwei Teilen: „Wie sie wurden, was sie sind“ heißt der erste und mit originellen Einstiegen, eleganten Überleitungen und vielen Beispielen geleitet uns Dath hier durch das Superhelden-Kabinett, erklärt, was es mit ihren ‚Origin Stories‘ der Helden auf sich hat, versucht sich an einer Genre-Zuordnung für die Heldengeschichten und verzettelt sich fast bei dem Versuch, von der Science-Fantasy zum schwierigen Begriff der Fantastik und seiner Differenz zu anderen Gattungen zu führen. Interessant zu lesen ist seine Gattungsreflexion auf jeden Fall – doch geht dies natürlich auf Kosten des „schnellen Einstiegs“, den das 100-Seiten-Prinzip verspricht. Überhaupt tanzt Daths Werk hinsichtlich dieser Intention etwas aus der Reihe, da es aufgrund seiner nur groben Gliederung deutlich mehr Konzentration erfordert. Erst im zweiten Teil, „Wer sie sind und woher sie kommen“, lockert sich das auf. Hier untersucht Dath näher, wofür Figuren wie Iron Man und Wonder Woman stehen, auf welche gesellschaftlichen Realitäten der Kampf der X-Menanspielt, und weshalb der Übermensch im Comic nicht ohne seinen menschlichen Kumpel auskommt – besonders mit letzterem und dem Abschnitt zu den „Superschurken“ sind ihm dabei aufschlussreiche Deutungen gelungen, die man mit deutlichem Gewinn liest.

Alles in allem ein etwas eigensinnig strukturierter, aber dennoch mit Vergnügen zu lesender Text. Als großes Manko entpuppen sich allerdings die völlig überflüssigen Info-Grafiken, die einen zum Beispiel über die Einwohnerzahlen von Gotham City und Metropolis, oder die Umhang-Neigung bekannter Superhelden informiert. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Dietmar Dath:
Superhelden. 100 Seiten
Reclam. Leipzig, 2016
100 S., 8 Abbildungen. 10,00 Euro

Fazit:

Das Prinzip von Reclams 100-Seiten-Reihe ist einfach, aber nicht formelhaft: In den besprochenen drei Bänden zeigt sich, dass trotz der Seitenbegrenzung den Autoren jeweils Raum gegeben wurde, um sich ihren Themen mit einer eigenen Herangehensweise und entsprechender Struktur zu nähern. Für Fans besagter Themen sind die Bände auf jeden Fall ein Gewinn, bieten interessante Deutungen und anregende Verweise auf weiterführende Themengebiete, die zum Schluss noch von knappen Literaturverzeichnissen abgerundet werden. Unter den drei besprochenen, allesamt lesenswerten Bänden ragt Frank Kelleters Text zu David Bowie besonders heraus: Hier wurde der knappe Umfang ideal für eine eingehende Reflexion zu Bowies Werk genutzt und durch wirklich nützliche Info-Grafiken ergänzt. Die nächsten zehn 100 Seiten-Bände können also gern kommen – im Frühjahr kann man sich dann unter anderem zu Marie Curie, Trash TV und den Gilmore Girls näher informieren.

Share: