Buch

Buchkritik: Nach einer wahren Geschichte

Am Ende siegt er doch, der Drang zum Voyeurismus. Kaum hat man den neuen Roman Nach einer wahren Geschichte der französischen Autorin Delphine de Vigan durchgelesen, muss man es wissen: Wie sehr gleicht die hier präsentierte Erzählerin namens Delphine der ‚echten‘ Autorin Delphine de Vigan? Welche der Erfahrungen der Roman-Delphine entspricht denen der realen Delphine? Und gibt oder gab es sie wirklich, diese falsche Freundin L.? Man wird recherchieren und Parallelen finden zwischen der Geschichte der erzählenden Protagonistin und den bekannten biographischen Details zur Autorin. Aber klare Antworten wird man nicht finden. Und dies ist keineswegs enttäuschend, sondern ein weiterer Beweis für die hohe Qualität dieses Romans, der mit großer erzählerischer Spannung die Obsession unserer Zeit mit faktentreuer Fiktion darlegt und schließlich auf den Kopf stellt.

Erfolg und Selbstzweifel

Bereits mit dem ersten Kapitel betreten wir in Nach einer wahren Geschichte auf metafiktionales Terrain: Gerade hat man noch den Eindruck, dass der Einstieg hier ein wenig mühsam ist, da thematisiert ihn die Erzählerin Delphine schon als solchen. Sie legt offen, wie sie durch ihn den Leser zu steuern vermag, bevor sie zur eigentlichen Absicht zurückkehrt und ihre erste Begegnung mit L. schildert. Delphine, Mutter zweier fast erwachsener Kinder und Lebensgefährtin eines Journalisten, ist zu diesem Zeitpunkt eine erfolgreiche Autorin, hat einen Roman über ihre psychisch kranke Mutter veröffentlicht, viel Lob dafür geerntet und ergriffene Leser für sich gewonnen. Auf der Feier einer Freundin lernt Delphine in ausgelassener Stimmung L. kennen. Sie bewundert sogleich die Entschlossenheit und Eleganz dieser Frau, die so anders ist als sie selbst. In ihr erblickt sie das perfekt zurechtgemachte, makellose Gegenteil, das sie selbst angestrebt hätte, wenn sie es nicht als aussichtslos betrachten würde, gegen ihre eigene Natur anzukämpfen. L. ist eine alleinstehende Ghostwriterin, schreibt die Autobiographien französischer Berühmtheiten, hält sich aber zu ihrer eigenen Vergangenheit bedeckt. Nach der Feier teilen sich die Frauen ein Taxi. Und schon am nächsten Tag klingelt Delphines Handy, obwohl sie L. nie ihre Nummer gegeben hat.

Fiktion als Zuflucht

Das Spiel mit der Realität, oder dem, was der geneigte Leser oder Zuschauer als Realität wähnt, wenn ihn Befunde wie „Nach einer wahren Begebenheit“ ins Kino locken oder zum Kauf eines Buchs animieren, ist allgegenwärtig in de Vigans Roman. Es wird angesteuert, wenn Delphine kurz nach der ersten Begegnung mit L. anonyme Drohbriefe erhält, von jemandem, der die Privatheit ihres Romans über ihre Mutter verabscheut und ihr dies ausführlich darlegt: „Du hast deine Mutter verkauft, und das hat Dir viel eingebracht. Du verdienst mächtig Kohle, oder? Zahlt sich die Familiengeschichte aus, mit maximaler Rendite?“ Das vermeintlich Reale ist zudem zentral in Delphines neuer Romanidee: Eine Erzählung über Aufstieg und Fall eines Reality-TV-Sternchens. Hiermit will sich Delphine wieder vollkommen auf das Fiktionale zurückbesinnen, einen Charakter von Grund auf erschaffen, ohne sich nach Erscheinen des Romans über die Folgen Gedanken machen zu müssen. Mit dieser Hinwendung zur vollkommenen Fiktion will sich Delphine von der (Selbst)Verachtung reinwaschen, die ihr autobiographischer Roman ihr beschert hat. Eine Flucht, die gelingen könnte – wäre da nicht L., die Delphines letzten, autobiographischen Roman über alles schätzt.

Fakt und Wahrheit

Der schmerzhafteste Part von Nach einer wahren Geschichte ist der, in dem Delphine ihrer nach kurzer Zeit sehr engen Freundin L. die Grundzüge ihrer Romanidee anvertraut und auf Unverständnis und Kälte stößt: „L. hatte sich nicht gerührt. Plötzlich stand mir meine Idee in einem so grausam hellen Licht vor Augen: All das war so vorhersehbar, so…künstlich. All das erschien mir schon in dem Augenblick, als ich davon sprach, so hohl.“ Im Anschluss führen die beiden Frauen eine interessante Debatte darüber, welchen Wert das Erdachte gegenüber dem auf wahren Begebenheiten Beruhenden habe – und die Fronten sind klar verteilt: Nur echte Figuren, echte Begebenheiten könnten den Leser heutzutage wirklich noch packen, faszinieren, abends wach halten, meint L. Delphine sieht das anders, doch kann L.s Beharren auf der Minderwertigkeit des Fiktionalen nicht standhalten. L.s Urteil zu ihrer Romanidee wirft sie dermaßen aus der Bahn, dass sie diese nicht weiterverfolgt und schließlich gänzlich mit dem Schreiben aufhört.

Autorin Delphine de Vigan | ©Delphine Jouandeau

Am folgenden psychischen Abstieg Delphines und ihrer zunehmende Isolation von allem, was ihr Freude bereitet hat, nimmt man als Leser viel Anteil. Zwar bietet Nach einer wahren Geschichte vielerlei Gelegenheiten, Delphine als unzuverlässige Erzählerin zu betrachten, zugleich ist sie aber eine unheimlich aufrichtige Romanfigur, die in ihren introspektiven Momenten ein feines Gespür für menschliche Unvollkommenheit offenbart, besonders ihre eigene. Man fühlt sich ihr so nahe, dass man die Zuverlässigkeit ihrer Schilderungen nicht anzweifeln will, sondern sich mit ihr zusammen lieber den Selbstzweifeln und vielleicht auch dem Realitätsverlust ergibt. Währenddessen intensiviert sich ihre Freundschaft zu L., deren Charakter prägnantere Formen annimmt. Um es milde zu sagen.

Es kann nur einen geben

Am Ende dieser spannenden Geschichte angelangt (und kurz bevor sich der voyeuristische Drang einstellt), wandert man als Leser dieses Romans auf dem schmalen, unebenen Pfad zwischen Fakt und Fiktion und weiß nicht mehr, auf welcher Seite was verortet ist. Dafür hat Delphine de Vigan mit einer meisterhaften Verwischung der Grenzen, raffinierten Details und sich nicht gänzlich auflösenden Wendungen gesorgt. Doch es ist eine Verwirrung, die einen nicht verärgert, sondern amüsiert: Nach all den Debatten um den Wert von Fiktion, um die Bedeutung des ‚Realen‘ und das Vertrauen des Lesers, hat de Vigan ihre Leser an einen Punkt gebracht, an dem sie nicht mehr sagen können, was auf der Erzählebene ‚echt‘ war und was nur im Kopf der Erzählerin stattgefunden hat – ganz zu schweigen davon, welche Teile hiervon tatsächlich von der Autorin gefühlt, erlebt und erfunden wurden. Und damit ist der Kampf zwischen Fakt und Fiktion entschieden. Sehr lesenswert.

Delphine de Vigan:
Nach einer wahren Geschichte
Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Doris Heinemann
Dumont, Köln 2016
352 S., 23,00 €
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