Buchkritik: Vaterland
Als ihr Vater Peter 1977 bei einer Explosion im Rahmen seiner terroristischen Aktivitäten im kanadischen Ort Welland ums Leben kommt, ist Nina Bunjevac gerade mal drei Jahre alt. Es sollen über drei Jahrzehnte vergehen, ehe Bunjevac Licht ins Dunkel der Lebensgeschichte ihrer Vaters bringen und sich ein eigenes Bild von ihm machen kann. Was sie in mühsamen Recherchen herausgefunden hat, hat die Comic-Künstlerin in ihrer sehr persönlichen Graphic Novel Vaterland niedergezeichnet und -geschrieben. Damit ist ein bewegender Familienroman in markantem Artwork entstanden, der die Leser von Kanada nach Jugoslawien führt und ihnen die komplexe Geschichte dieses Landes in eindrucksvollen Sequenzen vermittelt.
Das Ende des Schweigens
Vaterland setzt in Toronto im Jahre 2012 ein, als die Erzählerin ihre Mutter Sally behutsam mit Fragen zur Vergangenheit der Familie konfrontiert. Wir erfahren, wie es 1975 dazu kam, dass sie mit ihren beiden Töchter Nina und Sarah Kanada Richtung Jugoslawien verließ, während ihr Mann und der Sohn zurückblieben: Zu diesem Zeitpunkt war Peter Bunjevac schon einige Jahre lang Mitglied einer serbischen Terrorgruppe, die sich den Sturz der kommunistischen Regierung Jugoslawiens zum Ziel gesetzt hatte und durch Bomben-Anschläge auf jugoslawische Botschaften und Gemeindezentren in Kanada diesem näherkommen wollte. Ninas Mutter hatte zunehmend Angst um das Wohl ihrer Kinder und beschloss, mit ihnen nach Jugoslawien auszuwandern, als sie erkannte, dass ihr Mann von seinen terroristischen Aktivitäten nicht abrücken wollte. Unter dem Vorwand einer lediglich zweiwöchigen Reise nach Jugoslawien, rang sie Peter sein Einverständnis ab – er bestand aber darauf, dass der älteste Sohn bei ihm im Kanada blieb. Im kommunistischen Jugoslawien kam Sally mit ihren Töchtern bei ihren Eltern in Zemun unter. Sie blieb in den kommenden Jahren dort und hielt Briefkontakt zu Peter, mit dem sie sich aber nicht über eine Rückkehr einig wurde. Schließlich erfuhr sie via Telegramm im August 1977 von dessen Tod. Dieser erste Teil von Vaterland vermittelt in stark konturierten, statisch wirkenden Bildern die Erinnerungen von Sally, die von Schmerz, Liebe, Misstrauen und der anschließenden Trauer geprägt waren, die sie im Haus ihrer Eltern in Jugoslawien und vor allem ihrer Mutter gegenüber – einer glühenden Kommunistin – nicht zeigen durfte.
Die mühsame Rekonstruktion
„Während meiner Kindheit wurde der Name meines Vaters in unserem Haus selten erwähnt. Es brauchte viele Jahre und große Anstrengung, um das halbfertige Bild, das ich von jetzt von ihm habe, zusammenzusetzen.“ Mit diesen Worten beginnt der zweite Teil der Erzählung, der weit ausholen muss, um die Lebensgeschichte von Peter Bunjevac zu rekonstruieren. Die Erzählung beginnt 1936, als Peter im damaligen Königreich Jugoslawien als Sohn serbischer Eltern in einem kroatischen Dorf geboren wurde. Bunjevac‘ Erzählung verwebt die schwierige Familiengeschichte ihres Vaters fortan gekonnt mit den damaligen historischen Ereignissen und präsentiert sachlich dargelegte Exkurse zu den wichtigsten Stationen jugoslawischer Geschichte: Den Einmarsch der Achsenmächte 1941 in Jugoslawien, die Gründung der kroatischen Ustascha-Miliz, die Vertreibung und Ermordung von Serben auf kroatischem Gebiet, die Errichtung von Internierungs- und Konzentrationslagern und die sich schließlich formierenden widerstreitenden Gegenwehren der königstreuen nationalistischen Tschetniks einerseits und der kommunistischen Partisanen unter Führung Josef Broz Titos andererseits. Es ist eine schwierige historische Gemengelage, der sich Bunjevac hier annimmt und die ihr seit Erscheinen von Vaterland vereinzelte Vorwürfe sowohl von serbischer als auch kroatischer Seite eingebracht hat, wie sie bei ihrer Buchvorstellung Mitte März in Berlin erzählte. Dabei sind ihre dargestellten Ausführungen beiderseits sehr ausgewogen und sie präsentiert belegbare Fakten, die zusammengenommen ein differenziertes Bild der Geschichte Jugoslawiens vom Zweiten Weltkrieg bis in die frühen Jahre des kommunistischen Regimes unter Tito nachzeichnen. Zugleich schildert sie die Folgen des Kriegs und der sich formierenden faschistischen, nationalistischen und kommunistischen Kräfte auf das Leben ihres Vaters: Peters Vater wird 1941 ins Konzentrationslager Jasenovac deportiert, die Mutter stirbt kurz nach Ende des Kriegs. Seine frühen Erfahrungen mit Gewalt und Trauer prägen ihn nachhaltig und führen zu ersten Verhaltensauffälligkeiten. Als junger Mann bringt ihm seine Kritik am kommunistischen Regime unter Tito schließlich drei Jahre Gefängnis ein, nach denen ihm nichts anderes übrig bleibt, als nach Kanada auszuwandern. Bild für Bild stellt Bunjevac die wichtigsten Stationen dar, die zur ideologischen Prägung und Radikalisierung ihres Vaters führen – ohne jemals eine rechtfertigende Haltung einzunehmen oder die notwendige erzählerische Distanz zu verlieren.
Unwiederbringlich, aber auch unauslöschbar
Es ist ein schwieriges Unterfangen, dem sich Bunjevac im Gesamten annimmt: In prägnanten Bildern die tragische Geschichte ihrer Familie zu rekonstruieren, die komplexe Geschichte Jugoslawiens objektiv darzulegen und zudem nie den roten Faden ihrer Erzählung über die Folgen von faschistischen und nationalistischen Haltungen zu verlieren. Und doch, so stellt sich nach der anregenden und bewegenden Lektüre ihrer Graphic Novel dar, können diese Absichten nur gemeinsam wirkungsvoll umgesetzt werden: Die Tragik ihrer Familiengeschichte, so individuell sie auch ist, steht wie viele andere Geschichten jugoslawischer Familien synekdochisch für die von Fremdherrschaft, Systemwechseln, ewig widerstreitenden Kräften und schließlichem Zerfall geprägte Geschichte Jugoslawiens und macht deutlich, wie stark die Effekte all dieser historischen Ereignisse ins Private dringen und Individuen prägen. Bunjevac erzählt in Vaterland von diesem Phänomen in kraftvollen Zeichnungen, die mit ihren starken Umrissen und akkuraten Schattierungen die Unwiederbringlichkeit und zugleich Unauslöschbarkeit einer mühsam rekonstruierten Vergangenheit betonen. Ein einprägsames und unbedingt lesenswertes Werk.
Nina Bunjevac: |
Vaterland – Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada |
Übersetzt aus dem Kanadischen von Axel Halling. |
avant-verlag, Berlin 2015 |
156 S., schwarzweiß; 24,95 Euro |