Film

Filmkritik: In den Gängen

Dass große Dramen und Romanzen nicht immer vor malerischer Kulisse stattfinden müssen, beweist Thomas Stuber mit seinem Berlinale-Beitrag In den Gängen. Ort des Geschehens ist ein Großmarkt im deutschen Osten – wie schon in der gleichnamigen Kurzgeschichte aus Clemens Meyers Die Nacht, die Lichter (2008). Mit feinem Gespür für Arbeiterhumor und einem poetischen Blick auf das scheinbar Schlichte ist Stuber eine zwar nicht makellose, aber unglaublich sympathische Tragikomödie gelungen.

Die Kunst des Stapelns

Der blaue Kittel sitzt, nur die Tätowierungen soll er doch bitte stets bedeckt halten. „Haben die Kunden nicht so gern“, erklärt ihm sein neuer Vorgesetzter. Der junge Christian (Franz Rogowski) nimmt das, wie so vieles, schweigsam zur Kenntnis. Er ist der Neue im Großmarkt und soll in der Nachtschicht den mürrischen Gabelstaplerfahrer Bruno (Peter Kurth) in der Getränkeabteilung unterstützen. Dieser meint zwar, keine Hilfe zu brauchen, lernt Christian aber aufgrund dessen Schweigsamkeit bald als brauchbaren Kollegen schätzen, mit dem man auch mal gemeinsam „15“ (=Zigarettenpause) machen kann.
Über Christian erfahren wir zunächst genauso wenig wie seine Kollegen. Seine Tätowierungen zeugen von einer rebellischen Jugend. Aber nun scheint er nach Sicherheit zu suchen, fährt mit dem Bus zur neuen Arbeit und kehrt abends in eine spärlich möblierte kleine Wohnung zurück, in der er allein lebt. Aus seinen Augen lernen wir den Großmarkt als Ort der festen Regeln und Routinen kennen. Die Arbeitstage beginnen vorm Spiegel in der Umkleide mit dem angebrachten Hinweis „So sieht dich der Kunde“. Sie enden mit dem abendlichen Abschied vorm Vorgesetzten, der jedem Mitarbeiter die Hand schüttelt. Christian nimmt diese Abläufe ernst, scheint bemüht nicht vom Weg abzukommen und blickt Bruno ehrfurchtsvoll an, als dieser ihn den Gabelstapler eines Tages selbst fahren lässt.
In den Gängen

Marion (Sandra Hüller) und Christian (Franz Rogowski) | © Sommerhaus Filmproduktion / Anke Neugebauer

Romanze zwischen Süßwaren- und Getränke-Gang

Etwas Unruhe kommt hinein, als Christian vorm Kaffeeautomaten Marion (Sandra Hüller) aus der Süßwaren-Abteilung begegnet. Es ist ein harmloser, aber hinreißender Flirt, der Christian noch sprachloser werden lässt, als er es ohnehin schon ist. Als auch die Kollegen es mitbekommen, wird die Sache kompliziert, was Christian nicht nur bei, sondern auch nach der Schicht etwas aus der Bahn geraten lässt.

Eine schlichte Symphonie

Thomas Stuber verbindet in seiner Verfilmung der gleichnamigen Kurzgeschichte von Clemens Meyer auf erfreuliche Weise Realismus und Poesie. Ganz frei von Makeln ist In den Gängen dabei zwar nicht: Anfangs bekommen wir noch Christians Gedanken zum Großmarkt aus dem Off zu hören, doch diese verflüchtigen sich vollends in der zweiten Hälfte des Films. Genauso wenig ist die Kapitelunterteilung des Films nachvollziehbar, da hier weder Episoden- noch Perspektivwechsel vollzogen werden.
Aber dies wird von anderen Qualitäten des Films mehr als wettgemacht. Anhand verschrobener aber liebenswürdiger Figuren demonstriert uns Stuber feinsten trockenen Arbeiter-Humor und lässt uns verstehen, warum Christian seine Großmarkt-Kollegen bald wie eine Familie zu schätzen lernt, allen voran Bruno, der ihm zunehmend mit väterlicher Ermunterung begegnet. Zudem bietet In den Gängen einen augenzwinkernden Blick auf die Poesie der Arbeitsroutine, etwa wenn das Erwachen des Großmarkts mit dem Donauwalzer unterlegt wird oder die Stapler-Geräusche mit Meeresrauschen assoziiert werden. So ist man gerüstet für das letzte Kapitel dieser Geschichte, bei dem Tragik und Schönheit sehr nah beieinander liegen. Ein absolutes Highlight der diesjährigen Berlinale.

In den GängenIn den Gängen

Deutschland 2018

Länge: 125 Min.

Regie: Thomas Stuber. Drehbuch: Thomas Stuber, Clemens Meyer

Besetzung: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Andreas Leupold, Sascha Nathan u.a.

Kinostart Deutschland: 26. April 2018

culturshock-Wertung: 8/10

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