Film

Filmkritik: Zombi Child

Vergangenheit und Gegenwart, Ausbeutung und Privilegiertheit, Tod und Leben – Motivpaare, deren Gegensätzlichkeit das hochinteressanten Drama Zombi Child aufs Sehenswerteste auflöst.

Fluch der Vergangenheit, Initiationsriten der Gegenwart

Zwei Geschichten in zwei Settings, wie sie auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, erzählt der französische Regisseur Bertrand Bonello in seinem Drama Zombi Child. Die erste versetzt uns ins Haiti des Jahres 1962 und zeigt, wie der junge Clairvius (Mackenson Bijou) von einem Voodoo-Meister vergiftet, anschließend für tot gehalten und beerdigt wird – nur um kurz nach seiner Beisetzung aus dem Sarg geholt und auf einer Zuckerrohrplantage versklavt zu werden.

Die zweite Geschichte spielt an einem Mädcheninternat in der Nähe vom gegenwärtigen Paris. An dieser altehrwürdigen Elitenschmiede werden die Nachfahrinnen von TrägerInnen französischer Verdienstorden ausgebildet. Neu an dieser Schule ist die aus Haiti stammende Mélissa (Wislanda Louimat), die sich mit der sensiblen Fanny (Louise Labeque) angefreundet hat. Um in deren Literaturgang aufgenommen zu werden, muss Mélissa in einer Szene etwas Persönliches von sich preisgeben. Sie rezitiert daraufhin eine Strophe aus René Depestres Gedicht ‚Cap’tain Zombi‘, die auch im Vorspann des Films zu sehen war: „Écoutez monde blanc / Les salves de nos morts / Écoutez ma voix de zombi / En l’honneur de nos morts“ („Höre, weiße Welt / Die Salven unserer Toten / Höre meine Zombiestimme / Zu Ehren unserer Toten“).

Zombi Child Bonello

Clairvius (Mackenson Bijou) auf der Flucht.

Pendeln zwischen zwei Welten

Und hier finden nicht nur die beiden Erzählstränge zusammen, zwischen denen Zombi Child unaufhörlich unvermittelt pendelt, sondern auch interessante Motivpaare: Vergangenheit und Gegenwart, Ausbeutung und Privilegiertheit, Tradition und Moderne, Tod und Leben. Auf subtile Weise reflektiert Bertrand Bonello diese scheinbaren Gegensätze, wenn er in seinem Film den realen, von der Wissenschaft angezweifelten Fall des Haitianers Clairvius Narcisse in düsteren Bildern nacherzählt und ihn mit dem Leben von Teenagerin Mélissa verbindet.

Zombi Child Bonello

Pyjama-Party im Internat

Diese ist bald Teil der Literaturgang und bei den heimlichen nächtlichen Treffen dabei, in denen sich die Mädchen schminken, Selfies machen, Musik hören und erstaunlich wenig über Bücher sprechen. Doch bald stört sich die Gruppe an den unheimlichen Lauten, die Mélissa nachts im Schlafsaal von sich gibt. Was es hiermit auf sich hat und was ihr das Gedicht von Depestre tatsächlich bedeutet, vertraut Mélissa den Mädchen erst spät an. Da hat die von Liebeskummer geplagte Fanny schon ihre eigenen Nachforschungen zu Mélissas Familie angestellt.

Anregende Nachdenklichkeit

Mit seiner pendelnden Erzählweise, der ungewöhnlichen Figureneinführung und unüblichen Spannungsbögen lässt sich Zombi Child nur schwer in ein Genre pressen und siedelt sich irgendwo zwischen sensibler Coming-of-Age-Erzählung, postkolonialem Gesellschafts- und Horrordrama an. Das passt vollkommen zu einem Film, der sich mit einer anregenden Nachdenklichkeit und Offenheit Themen widmet, über die sich heutzutage gern lauthals gestritten (Stichwort: kulturelle Aneignung) oder weiter rigoros geschwiegen wird (unser aller Verhältnis zum Tod).

Es scheint Bonello dabei darum zu gehen, Scheinwidersprüche aufzulösen und auf die Koexistenz von Zuständen zu verweisen, die sich gemeinhin gegenseitig ausschließen – etwa die von der Zombi(e)figur verkörperte Gleichzeitigkeit von Tod und Leben. Zombi Child ist voller solcher Reflexionen, die einem nicht um die Ohren gehauen werden, sondern sich sanft in bedächtig gefilmten Bildern integrieren bis zu einem furiosen Finale. Ein wirklich sehenswerter, überraschender Film.

Zombi Child BonelloZombi Child

Frankreich, 2019
REGIE & DREHBUCH: Bertrand Bonello
KAMERA: Yves Cape
BESETZUNG: Louise Labeque, Wislanda Louimat, Mackenson Bijou, Katiana Milfort
103 Min. Kinostart Deutschland: 08. Oktober 2020

culturshock-Wertung: 8/10

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