Film

Filmkritik: The Lodge

Mit dem Psycho-Horror The Lodge ist dem österreichischen Regie-Duo Veronika Franz und Severin Fiala (Ich seh Ich seh) ein grandioser Film über die Folgen eines Familienzerfalls gelungen.

Was ist die intakte, klassische Familie heute noch wert? Diese Frage wird in The Lodge anhand eines besonders verheerenden Szenarios eingeführt: Dem zweifachen Familienvater Richard (Richard Armitage) ist sie nicht so viel wert wie seine Liebe zur jungen Grace (Riley Keough), für die er seine Frau Laura (Alicia Silverstone) verlassen hat. Die wiederum hat ihre Familie als Lebensmittelpunkt betrachtet. Die Trennung von Richard und seine Verkündung, dass er Grace nun heiraten möchte, ziehen ihr den Boden unter den Füßen endgültig weg. Und die Entrücktheit von Lauras Psyche, die Thimios Bakatakis‘ Kamera ganz zu Beginn des Films angedeutet hat, kulminiert in einer erschütternd konzis gefilmten Selbstmordszene. Zurück bleiben die Kinder Aidan (Jaeden Martell) und Mia (Lia McHugh), die mit einem komplexen Gefühlsgemenge aus Trauer, Enttäuschung und Wut zu ihrem Vater ziehen.

The Lodge

Hat mit dem Leben schon abgeschlossen: Laura (Alicia Silverstone).

Die intakte Familie als Puppenhaus-Szenario

Wer Ich seh Ich seh (2014), den vielfach ausgezeichneten Vorgänger des Regie-Duos Veronika Franz und Severin Fiala gesehen hat, wird den sich in The Lodge vollziehenden Perspektivwechsel vorhersehen – und doch von der Komplexität dieser Geschichte überrascht sein. Wie damals konzentriert sich der Film zunächst auf den kindlichen Blick, den wir in der zweiten Hälfte des Films gründlich hinterfragen  müssen. Zunächst betrachten wir, wie sich zwischen Aidan und Mia kurz nach der Beerdigung ihrer Mutter ein enges Band formt, das auch noch nach einem Zeitsprung von sechs Monaten intakt ist. Was sie in dieser Zeit an ihre Mutter und das einstige Familienleben erinnert, ist ein Puppenhaus, das exakt dem winterlichen Feriendomizil der Familie nachempfunden ist.

Dass es ein zentrales Motiv für den Perspektivwechsel dieses Films ist, zeigt uns Kameramann Bakatakis (bekannt aus der Zusammenarbeit mit Yorgos Lanthimos, zuletzt für The Killing of a Sacred Deer ) in bewusst irreführenden Aufnahmen des Puppenhausintérieurs, das auf den ersten Blick wie ein ganz normales Hausinneres anmutet. Im Verlauf des Films werden wir die Miniaturversion noch oft für die reale Holzhütte halten, in die uns The Lodge schließlich führt.

Eine Frage von Distanz und Perspektive

Nachdem Richard nämlich Grace für ein halbes Jahr auf Abstand zu seinen Kindern gehalten hat, will er nun ein Kennenlernen der Drei erzwingen. In den Weihnachtsferien und in der Holzhütte, die sie einst als Familie (mit Laura) besucht haben. Ein Plan, der nicht nur bei Genrekennern (Wieso nicht nach einer Familientragödie in ein einsames Feriendomizil mitten im verschneiten Nirgendwo fahren?), sondern auch bei Menschen mit einem Mindestmaß an Fingerspitzengefühl für Kopfschütteln sorgen wird. Aber geschenkt.

Der Perspektivwechsel vollzieht sich kurz nach Ankunft in dem kaum als Hütte zu bezeichnenden, mächtigen Holzhaus. Dessen düsteres Inneres nehmen wir durch Grace‘ Augen wahr, die sich vor allem auf die andächtig-religiösen Dekorationsstücke richten. Sie ist diesem Ort, der überall noch Spuren von Laura trägt, auf vielfache Weise ausgeliefert. Und da wir es als Zuschauer in zahlreichen grauenerregenden Szenen gleichermaßen sind, kommen wir nicht umhin, für Grace ebenso Empathie zu empfinden wie für die Kinder, die ihre Mutter verloren haben. Wie schon in Ich seh Ich seh zeigen uns Franz und Fiala, dass die Distanz zwischen uns und den Figuren im Film durch solche Perspektivwechsel überwunden werden kann. Doch dies ist den Figuren im Film tragischerweise nicht möglich.

The Lodge

Und wieso nicht der psychisch instabilen Freundin noch schnell Schießen beibringen, bevor man sie mit den Kindern allein lässt? Vater des Jahres Richard (Richard Armitage) und Grace (Riley Keough)

Wahnverwandtschaften

Und so sehen wir mit an, wie sich Grace vergeblich Mühe gibt, zu Aidan und Mia eine Beziehung aufzubauen. Dabei ist sie, was Familientragödien betrifft, selbst kein unbeschriebenes Blatt und deswegen sogar auf Psychopharmaka angewiesen. Als Richard für ein paar Tage das Feriendomizil verlassen muss, um zu arbeiten (erneutes Kopfschütteln), bricht für Grace, Aidan und Mia eine Zeit an, in der Realität, Wahn und Manipulation bald nicht mehr auseinanderzuhalten sind.

Und immer wieder sehen wir Bilder des daheim verbliebenen Puppenhauses. Dieses hat den Kindern nicht nur Trost gespendet, sondern sie auch in ihrem Glauben an die Wiederherstellung der einstigen Familie bestärkt – auf unheilvolle Weise. Denkt man an Ari Asters sehr aufwühlenden Psycho-Horror Hereditary (2018) zurück, sieht man die realistischen Miniaturen schrecklicher Familientragödien vor sich, die das dortige Puppenhaus füllten. Beide Filme setzen sich in Bezug auf Familie mit Illusion und Wahn auseinander. In Hereditary wird die Kernfamilie aufgrund einer generationenwährenden Schweigespirale unfreiwillig zum Hort des Dämonischen. The Lodge hingegen zeigt uns, was passiert, wenn man sich von dem Traum der auf Lebenszeit intakten Kernfamilie partout nicht lösen kann. Ein sehr sehenswerter, aufwühlender Alptraum.

Dieser Beitrag ist erstmals am 5. September 2019 im Rahmen der Filmvorführung beim Fantasy Filmfest in Berlin erschienen.

The Lodge

USA / Großbritannien 2019
REGIE: Veronika Franz, Severin Fiala
DREHBUCH: Veronika Franz, Severin Fiala
KAMERA: Thimios Bakatakis
BESETZUNG: Riley Keough, Jaeden Martell, Lia McHugh, Richard Armitage, Alicia Silverstone
100 Min. Kinostart Deutschland: 06. Februar 2020
Gesehen auf dem Fantasy Filmfest Berlin

culturshock-Wertung: 9/10

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