Film

Filmkritik: Sieben Minuten nach Mitternacht

Es bedarf vieler Schritte, um sich auf die Einsicht zuzubewegen, dass es für einen todkranken Nahestehenden keine Rettung mehr gibt. Dass diese Schritte Heranwachsenden natürlich schwerer fallen, aber auch von ihnen zurückgelegt werden müssen, ist eine der vielen bitteren Wahrheiten von Patrick Ness‘ Fantasy-Roman Sieben Minuten nach Mitternacht. Diesen hat der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona mit beeindruckenden visuellen Effekten und Hingabe zur Aufrichtigkeit der Vorlage verfilmt.

Dass sich Regisseur Bayona nie in Rührseligkeiten verliert, hat wohl auch mit dem Respekt vor der Entstehungsgeschichte der Romanvorlage zu tun. Die Grundidee für die Handlung stammt von der irischen Kinderbuchautorin Siobhan Dowd, die 2007 ihrer Krebserkrankung erlag, bevor sie ihren letzten Roman realisieren konnte. Dowds Verlegerin wandte sich an Patrick Ness, der die Geschichte vollendete und 2011 mit der Vorbemerkung veröffentlichte: „Dieser Roman wäre Siobhans fünftes Buch geworden. Sie hatte schon die Figuren, ein detailliertes Exposé und einen Anfang. Was sie leider nicht hatte, war Zeit.“ Es ist ein Roman über die Notwendigkeit schmerzhafter Einsichten geworden, über Tod, Trauer und doch: Hoffnung. Ein hartes Themengemenge für die 13jährige Hauptfigur Conor O’Malley.

“Zu alt, um Kind zu sein, zu jung, um erwachsen zu sein“

Als Jungen, der zwischen Grübelei und Verdrängung gefangen scheint, lernen wir Conor (Lewis MacDougall) in den zwei Anfangsszenen kennen. Zu Beginn sehen wir ihn schwer atmend im Bett liegen, während draußen ein Sturm tobt, ebenso wie in seinem wiederkehrenden Alptraum. Er steht mit seiner Mutter auf dem Friedhof, unter ihnen bricht die Erde auf. Conor versucht, seine Mutter vorm Sturz in den dunklen Abgrund zu bewahren, doch seine Kräfte lassen nach. An diesem Punkt wacht Conor auf und blickt auf die Uhr: Sieben Minuten nach Mitternacht. Übermüdet, aber flink bereitet er sich am nächsten Morgen auf den Tag vor, macht sich Frühstück, wäscht seine Wäsche. Als er den Badezimmerschrank öffnet, wird unser Blick auf Medikamentenpackungen gelenkt, die nicht nach den üblichen Kopfschmerztabletten aussehen. Conors Mutter (Felicity Jones) hat Krebs und verbringt einen Großteil des Tages im Bett.

Es ist ein Alltag, geprägt von mit allen Kräften niedergedrückter Angst und Wut, was Bayona in düsteren, aber von einer warmen Melancholie geprägten Bildern einfängt. Und dennoch ist Conor diese Situation um einiges lieber als die Veränderung, die scheinbar unerwartet in sein Leben tritt. Der Zustand seiner Mutter verschlechtert sich dermaßen, dass sie ins Krankenhaus muss und Conor im Hause seiner Großmutter (Sigourney Weaver), einer strengen Ordnungsfanatikerin, unterkommt. Nicht mal der Besuch seines sich selten blicken lassendes Vaters (Toby Kebbel) kann ihn über diese Veränderung hinwegtrösten.

Das Monster der Aufrichtigkeit

An diesem Punkt in Conors Leben wandelt sich der wiederkehrende Alptraum in eine Wachfantasie, die jeden Kinderpsychiater aufschrecken lassen würde. Aus der uralten Eibe in der Nachbarschaft löst sich eine riesige Holzgestalt, den Ents aus Herr der Ringe nicht unähnlich, und sucht Conor in seinem Zimmer auf. Mit tiefer Stimme (die im Original Liam Neeson gehört) erklärt ihm das Monster sein Vorhaben: Drei Geschichten will es ihm erzählen, im Gegenzug soll ihm Conor eine vierte schildern.

Gravitas verkörpert dieses Wesen, das sich mit langsamen, mächtigen Schritten bewegt, begleitet vom Knarren, Knacken und Knistern, das man vom ‚arbeitenden‘ Holz kennt. Dafür verließ sich Bayona nicht ausschließlich auf CGI, sondern tat sich mit den Effektspezialisten von Guillermo del Toros Pans Labyrinth zusammen. Diese bauten ein animatronisches Monster, das um digitale Komponenten ergänzt wurde. Das Ergebnis ist schlichtweg beeindruckend: Weit entfernt von den üblichen, so fließend wirkenden Computeranimationen strahlt diese Leinwandkreatur Weisheit, Ernst und Aufrichtigkeit aus.

Ehrliche Geschichten, verdientes Ende

Von dieser Dreifaltigkeit sind auch die Geschichten geprägt, die das Monster Conor erzählt. Sie entfalten sich in bewegten Aquarellen, die sich elegant in die visuelle Aufmachung des gesamten Films einfügen. Doch in erster Linie brechen diese Geschichten mit Erwartungen: Sie lehren menschliche Komplexität und die Hinterfragung von allzu simplen Dichotomien wie Gut und Böse, Richtig und Falsch. Sie holen weit genug aus, um Conor seine Situation inmitten des sich rapide verschlechternden Zustands seiner Mutter begreiflich zu machen – mit allen Begleiterscheinungen, schmerzhaften Empfindungen und befürchteten Konsequenzen. Mit berechtigtem Vertrauen in die Romanvorlage hat sich Regisseur Bayona seiner Adaption genähert. Sein mutiges, aufrichtiges Drama über Verzweiflung, Schmerz und Trauer droht nur ganz selten ins Kitschige zu verfallen, kriegt dann aber schnell wieder die Kurve. So ist Sieben Minuten nach Mitternacht zu einem düsteren, anmutigen Film geworden, der sich sein lebensbejahendes Ende hart erarbeitet. Sehenswert.

Sieben Minuten nach MitternachtSieben Minuten nach Mitternacht

(Original: A Monster Calls)
USA / Spanien / Großbritannien, 2016
Regie: Juan Antonio Bayona.
Drehbuch & Romanvorlage: Patrick Ness
Besetzung: Lewis MacDougall, Sigourney Weaver, Felicity Jones, Toby Kebbell, Liam Neeson
108 Min. Kinostart Deutschland: 4. Mai 2017
FSK: ab 12 Jahren

culturshock-Wertung: 7/10

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