Film

Filmkritik: David Copperfield

Viele Male und zuletzt vor knapp 20 Jahren wurde Charles Dickens‘ David Copperfield schon verfilmt. Zeit für einen frischen Ansatz mag sich Regisseur Armando Ianucci gedacht haben.

Ein Klassiker aus frischer Perspektive

Wer heutzutage einen aus dem 19. Jahrhundert stammenden Klassiker der Weltliteratur verfilmt, weiß, worauf er/sie sich einlässt. Die Verfilmung wird nicht nur danach bewertet, ob sie der literarischen Vorlage würdig ist. Nein, sie wird auch an den Filmen gemessen, die sich zuvor der literarischen Vorlage angenommen haben. Im Fall von Charles Dickens‘ achtem Roman „David Copperfield“ (1849/50), einer zurecht geliebten Erzählung über den mühsamen, holprigen Weg zur Selbstkenntnis, hat es die Anzahl der Adaptionen – inklusive Stummfilmen, TV-Mehrteilern und Spielfilmen – auf 13 gebracht.

Doch das hat der schottische Satiriker, Drehbuchautor und Regisseur Armando Iannuci wohl lässig beiseite gewischt. Bekannt als Schöpfer schwarzhumoriger Polit-Satireserien wie The Thick of It und Veep und 2017 mit The Death of Stalin erstmals als Kino-Regisseur in Erscheinung getreten, hat wohl ohnehin niemand eine gesittete Bildungsromanverfilmung von ihm erwartet. Und doch ist sein David Copperfield, „frei nach“ Dickens, trotz seiner Bemühung um einen frischen Ansatz recht harmlos und etwas zu zerstreut ausgefallen.

David Copperfield Film

David Copperfield (Dev Patel) an Notizen

Entführung ins Geschehen

Dabei zitiert David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück zunächst die zentrale Frage des Romanbeginns, als der erwachsene Copperfield, gespielt von Dev Patel, ans Pult bei einer Lesung tritt und sich und das Publikum fragt, ob er sich als Held seiner Lebensgeschichte entpuppen oder jemand anders diese Stelle ausfüllen wird. Und schon werden wir von ihm hinter den Vorgang mitten ins Geschehen entführt, zum Tag seiner Geburt. Von hier an entwickelt sich eine steile Erzählung über Davids Kindheit, die er bei einer liebenden Mutter und der herzlichen Nanny Peggotty (Daisy May Cooper) verbringt, bis sein Stiefvater Edward Murdstone (Darren Boyd) die Bildfläche betritt und ihn in seine Flaschenfabrik nach London abschiebt. Durch diesen ersten Kummer einer einsamen Kindheit hilft dem kleinen David (Jairaj Varsani) nur die Flucht in das Gekritzel erster kleiner Erzählungen, die sich mit der Zeit zu handfesten, intelligenten Beobachtungen seiner illustren Umgebung entwickeln.

Lebhaft und divers

Eine schwungvolle Kameraführung, rasante Zoom-Ins und der häufige Wechsel des Settings bestimmen den rauschhaften Rhythmus dieser Erzählung, die im weiteren Verlauf Davids Jugend und seinen mühsamen Weg in ein auskömmliches Schriftstellerleben schildert. Leider hält diese Schilderung kaum inne, um die in vielen Fällen gelungen Situationskomik vollends auszukosten. Wie auch? Wenngleich Ianucci und Drehbuchautor Simon Blackwell auf einige Nebenfiguren aus dem rund 700-seitigen Roman verzichtet haben, drängen immer noch genügend in den Vordergrund: Davids exzentrische Tante Betsey Trotwood (Tilda Swinton), deren verwirrter Cousin Mr. Dick (Hugh Laurie), Dauer-Pleitier Mr. Micawber (Peter Capaldi), der listige Emporkömmling Uriah Heep (Ben Whishaw) und Davids treue Kumpeline Agnes Wickfield (Rosalind Eleazar) – um wirklich nur einige zu nennen. Dass Ianucci für seine Verfilmung auf ein sogenanntes Blind Casting bestanden hat und die Besetzung ungeachtet der Hautfarbe und Herkunft der SchauspielerInnen erfolgt ist, stellt sich dabei als unproblematisch und Bereicherung für solche fiktionalen Stoffe vor historischer Kulisse dar.

David Copperfield Film

Auf der Flucht vor den Geldeintreibern: Der kleine David (Jairaj Varsani) und Mr. Micawber (Peter Capaldi)

Nein, es ist dann doch das von Ianucci und Blackwell an den Tag gelegte Erzähltempo, das die Handlung aus den Fugen und jeglichen Fokuspunkt verschwimmen lässt. Mal meint man, hier eine Betonung der Zumutungen der Klassengesellschaft herauslesen zu können, etwa als David (zu Recht) fürchtet, dass ihn die Abstiegskapitel seines Lebens für immer verfolgen werden. Dann rücken aber die skurrilen Eigenschaften seiner Freunde und Familie dieses Thema aus dem Blickfeld, bis plötzlich romantische Tragödien auf der Matte stehen. Was sich im Roman gut ausgeht, wirkt hier teilweise ganz bewusst bis zur Verzerrung gerafft und dann doch wieder unelegant und salopp. Dies ließe sich noch verzeihen, wenn nicht auch irgendwann gänzlich der Bezug zu den vielen durchs Bild huschenden Figuren verloren ginge.

Zerstreuung für Dickens-Kenner

Nichtsdestotrotz gibt es sehr viel Sehenswertes an Ianuccis liebevoll ausgestatteter, gut besetzter und charmant zerstreuter David Copperfield-Adaption. Das Bemühen, nicht die x-te, gefällige und bedeutungslose Verfilmung eines Klassikers zu kreieren, ist hier deutlich erkennbar. Dennoch fehlt hier trotz all der Lebendigkeit und des stimmungsvollen Bilderrausches eine klare Botschaft, die aus Ianuccis Film mehr als nur eine lebhafte Ergänzung zu den bisherigen Dickens-Adaptionen gemacht hätte.

David Copperfield FilmDavid Copperfield – Einmal Reichtum und zurück

(Original: The Personal History of David Copperfield)
Großbritannien/USA 2020
REGIE: Armando Ianucci. DREHBUCH: Armando Ianucci, Simon Blackwell
KAMERA: Zac Nicholson
BESETZUNG: Dev Patel, Jairaj Varsani, Hugh Laurie, Tilda Swinton, Ben Whishaw, Morfydd Clark, Rosalind Eleazar u.v.m.
119 Min. Kinostart Deutschland: 24. September 2020

culturshock-Wertung: 6/10

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