THEMENWOCHE TWIST ENDING: Musikvideos mit unerwarteten Wendungen
Während die meisten Filme mit Twist Ending anderthalb bis zweieinhalb Stunden Zeit haben, um ihre Zuschauer auf eine falsche Fährte zu locken und sie dann mit einer alles umdeutenden Enthüllung zu verblüffen, muss das Musikvideo, das sich an einem Plot Twist versucht, komprimieren, was das Zeug hält. Nur ein paar Minuten bleiben ihm, um unsere Aufmerksamkeit für die Story in Beschlag zu nehmen. Und sollte uns der Song dazu missfallen, ist dies von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wer sich aber zu sehr am Song erfreut, gar die Augen schließt, wird die fantastischen, dramatischen, gruseligen und niedlichen Enthüllungen der nun folgenden Musik-Videos auch verpassen. Also Augen und Ohren auf beim twistenden culturtape:
Best Coast – Our Deal (2011)
Wie aus Kommunikationsproblemen vermeidbare Missverständnisse entstehen, die ein tragisches Ende nehmen – darauf ließe sich der Plot von Romeo und Julia, dem darauf beruhenden Musical West Side Story und diesem beide Vorgänger zitierenden Musikvideo reduzieren. Darin verliebt sich Victoria (Chloë Grace Moretz), Mitglied der Straßengang ‚NightCreepers‘, in Lucky (Tyler Posey), einen Jungen aus der rivalisierenden Bande ‚DayTrotters‘. Wir alle wissen, wie das enden muss. Aber dennoch schafft es Drew Barrymore, die Regisseurin des Videos, dem Ganzen noch einen so niedlichen wie ärgerlichen Twist gegen Ende zu entlocken.
Coldplay – The Scientist (2002)
Die Umkehrung der Erzählreihenfolge ist das vordergründige Charakteristikum von Jamie Thraves‘ Musikvideo zu The Scientist. Wir sehen Chris Martin auf einer schmutzigen Matratze erwachen, die, wie der Zoom-Out verrät, auf dem Straßenpflaster einer runtergekommenen Gegend liegt. Der Songzeile Let’s go back to the start entsprechend, wandern wir mit ihm rückwärts durch ein urbanes Szenario, über Zugschienen, durch ein Waldstück, bis wir schließlich zur unerwartet tragischen Ausgangssituation dieser Erzählung gelangen. Diese eröffnet dem Song über das schmerzhafte Ende einer Beziehung eine andere Dimension.
The Killers – Here With Me (2012)
Bereits 2006 arbeiteten The Killers mit Regisseur Tim Burton für ihr Video zu Bones zusammen. War Bones noch eine schmissige Up-Tempo-Nummer mit zwielichtigen Lyrics, zu denen Tim Burton ein feines Horrorszenario im Autokino entwarf, ließ es die sechs Jahre später entstandene Power-Ballade Here With Me etwas ruhiger – manche mögen auch sagen: öde – angehen. Wie gut, dass auch hierzu Tim Burton eine interessante Geschichte zu erzählen wusste, die er an den US-Horrorfilm Mad Love von 1935 anlehnte. Wir sehen darin einen jungen Mann (Craig Roberts), der aus der Ferne die zauberhafte Winona Ryder anhimmelt, sich aber aufgrund ihrer Unerreichbarkeit mit der nach ihrem Bild geformten Wachsfigur begnügt. Man mag sich an Lars und die Frauen erinnert fühlen, wenn da nicht dieses Ende wäre, das auch Tim Burton-Kenner nun wirklich nicht erraten könnten…
Common – Testify (2005)
Warum Common als großer Storyteller unter den US-Rappern gilt, zeigt etwa sein Stück Testify, in dessen Musikvideo sich ein Gerichtsdrama abspielt. Ein Mann (Wood Harris, bekannt aus The Wire) ist des zweifachen Mordes angeklagt und seine treue Ehefrau (Taraji P. Henson) und Mutter seiner zwei Kinder beteuert im Verhör und später im Gerichtssaal verzweifelt seine Unschuld. Doch mit dem Urteil enthüllen Commons Lyrics und dieses stark an Die üblichen Verdächtigen angelehnte Video zeitgleich die Wahrheit hinterm Drama. Und Taraji P. Henson zeigt hier Ansätze der Attitüde, die ihr zehn Jahre später in Empire so gut zu Gesicht stehen sollte.
Halsey – Colors (2016)
Der Song mag Colors heißen, aber eine Farbe dominiert die Lyrics und das Musikvideo dazu: blau. In seiner kühlsten, saubersten, aber auch undurchdringlichsten Nuance überzieht es das kleine Liebesdrama, das sich hier im Upper-Class-Milieu mitsamt Tennis-Court, holzvertäfelten Interieurs und adretten Schuluniformen abspielt. Mit schlecht sitzender blonder Perücke mimt Halsey ein verliebtes Teenager-Mädchen, das bei ihrem Schwarm (schon wieder Tyler Posey) eigentlich offene Türen einrennen könnte. Was also steht im Weg? Die Frage ist wohl eher, wer…
The Prodigy – Smack My Bitch Up (1997)
Schon die schlichten Lyrics dieses Songs (”Change my pitch up / Smack my bitch up”) sorgten für Boykott-Aufrufe und eine Auseinandersetzung zwischen The Prodigy und den Beastie Boys 1998 beim Reading Festival. Doch Jonas Åkerlunds Musikvideo setzte dem Ganzen noch die Krone auf. Zu sehen war ein, sagen wir, ‚ausgelassener‘ Abend aus der Ego-Perspektive einer trinkenden, pöbelnden, um sich schlagenden, grapschenden, Kokain und Heroin konsumierenden Person, dessen am Ende reflektiertes Spiegelbild alle überraschte. Bis heute ist es nicht nur in den Listen der schockierendsten, sondern auch besten Musikvideos vertreten. Die volle Intensität entfaltet es in der unzensierten Version.