Buch

Buchkritik: Wer’s findet, dem gehört’s

Lebensjahre auf 600 Seiten: David Sedaris’ Tagebuchaufzeichnungen Wer’s findet, dem gehört’s

Eine tiefe Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, eine über Jahrzehnte andauernde Analyse sozialer Missstände, eine stolze Niederschrift eigener Lebensleistungen – dies alles ist in Wer’s findet, dem gehört’s, den Tagebuchauszügen des amerikanischen Autors David Sedaris, nicht zu finden. Es würde auch nicht so recht zusammenpassen mit den autobiographischen Kurzgeschichten, durch die Sedaris in den letzten Jahrzehnten in den USA berühmt und auch hierzulande einigermaßen bekannt geworden ist. Sie sind geprägt von einem selbstironischen, entlarvenden Blick auf die Absurditäten des menschlichen Alltags und Daseins. Wer’s findet, dem gehört’s offenbart, wie sich dieser unverwechselbare Blick durch trostlose, wirre und schließlich produktive Zeiten in Sedaris‘ Leben entwickelt hat.

Aufzeichnungen eines Tagelöhners

Die von Sedaris ausgewählten Aufzeichnungen beginnen im Jahr 1977, als er gerade 20 Jahre alt war und mit Freunden ziellos durch die Staaten trampte. Dabei hielt er sich mit Jobs als Erntehelfer, Putzkraft oder Bauarbeiter über Wasser. Sein Studium an der Kent State University hatte er zu diesem Zeitpunkt abgebrochen, wovon in den kurz gehaltenen Einträgen nichts zu lesen ist, wohl aber von einem großen Streit mit seinem Vater und von seinem konstanten Drogenkonsum. Marihuana, Crystal Meth, LSD, Alkohol – über Jahre hinweg war Sedarisselten nüchtern und dauerpleite. Dabei riss aber nie das Band zu seiner verschrobenen Familie, die später immer wieder als Motiv in seinen Kurzgeschichten auftauchte.

David Sedaris | © Michael von Aulock

Weder Selbstmitleid noch klare Eingeständnisse seiner Probleme durchziehen Sedaris‘ Tagebucheinträge. Viel lieber widmet er sich seiner Umgebung, den schrägen Typen, die ihm bei seinen Gelegenheitsjobs begegnen und abstruse Geschichten zu erzählen haben – darunter Ex-Häftlinge, Frauenschläger und Alkoholiker, die mit rassistischen und homophoben Sprüchen um sich werfen. Sedaris beobachtet scharf und zeichnet im lakonischen Ton das Bild eines dahintreibenden, hoffnungslosen Prekariats in North Carolina, dem er zeitweise trotz seiner Mittelschichtsherkunft angehörte.

Wenn man Sedaris‘ aktuellere Kurzgeschichten über sein Leben als Kolumnist in New York und seinen jahrelangen Aufenthalt in Paris kennt, staunt man über diese frühen Wanderjahre. Warum er – als schwuler, zierlicher Mann mit hoher Stimme konstanten Beleidigungen ausgesetzt – es so lange in diesem Milieu aushielt, zeichnet sich nach den ersten hundert Einträgen ab: Sedaris seziert seine Umgebung viel lieber als dass er sie verachtet, immer auf der Suche nach dem Sonderbaren. Ob sich dieses bei anderen Leuten oder ihm selbst findet, scheint ihm gleich zu sein. Es ist eine Beobachtungsgabe, die sich nur in Abkehr von jeglicher Herablassung und in der schrankenlosen Hinwendung zum Gemeinsamen der menschlichen Erfahrung entwickeln kann.

Lange Zweigleisigkeit, späte Ankunft

Natürlich gelingt David Sedaris irgendwann der Absprung aus diesem Tagelöhnerdasein hinein ins Kreative. Aber es braucht seine Zeit: 1984 beginnt er ein Studium an der School of Art in Chicago, wird später sogar gelegentlich als Dozent für Kreatives Schreiben angeheuert. Doch weiterhin finanziert er sich mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs, so dass in seinen Aufzeichnungen ein dichtes Aufeinanderfolgen von ernüchternden und hoffnungsvollen Erlebnissen zu finden ist:

27. Juni 1988: „Irgendwer hat ins Foyer des Hauses geschissen, in dem ich gerade arbeite. Zum Glück war Frank vor mir da, sodass ich es nicht wegmachen musste. Es ist so traurig, menschliche Scheiße außerhalb ihres normalen Umfelds zu sehen.“

28. Juni 1988: „Als Dozent werde ich zu Institutssitzungen und Cocktailpartys eingeladen. Ich kann es kaum erwarten. Es ist zwar nur ein Kurs, aber ich beabsichtige trotzdem, mir eine Aktentasche zuzulegen und die Rolle voll auszuschöpfen.“

Selbst als es Sedaris 1990 mit seinem mühsam Erspartem nach New York schafft und seine Kurzgeschichten hin und wieder veröffentlicht werden, geht es mit dieser Zweigleisigkeit weiter. Aber ebendiese beschert ihm schließlich Ende 1992 seinen Durchbruch: Im Radio wird die Lesung seiner „Weihnachtsland-Tagebücher“ ausgestrahlt, in denen er von seinen Erlebnissen als angeheuerter Weihnachtself im New Yorker Kaufhaus Macy’s berichtet. Es ist nicht das Ende seiner finanziellen Probleme, aber der Beginn einer Karriere als gefragter Kolumnist und regelmäßig publizierter Schriftsteller. Eine Existenz, die Sedaris selbst in seinen späteren Aufzeichnungen nicht ganz geheuer scheint, aber aus der er immer noch für seine witzigen Geschichten übers Sonderbare schöpfen kann. Wie ihm das gelingt, erklärt er im Vorwort zu diesem lesenswerten Tagebuchband: „Um sein Leben aufzuzeichnen, muss man es erst einmal leben. Nicht hinterm Schreibtisch, sondern jenseits davon. Draußen in der Welt, die so großartig und chaotisch und schmerzhaft ist, dass man sich manchmal hinsetzen und darüber schreiben muss.“

David Sedaris:
Wer’s findet, dem gehört’s. Meine Tagebücher und ich
(Originaltitel: Theft By Finding: Diaries (1977-2002)
Blessing Verlag, München 2017
608 S. 25,00 Euro
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