Filmkritik: Son of Saul
László Nemes‘ unkonventionelles, preisgekröntes Holocaust-Drama Son of Saul
„Im Verlauf der Jahre ist der Holocaust zu etwas Abstraktem geworden. Für mich stellt er vielmehr ein Gesicht dar, ein menschliches Gesicht. Lassen sie uns dieses Gesicht nicht vergessen.“ Mit diesen Worten nahm der ungarische Regisseur László Nemes im Januar dieses Jahres den Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film entgegen. Inzwischen wurde ihm auch der Oscar in dieser Kategorie verliehen. Was Nemes‘ Worte meinen, offenbart sich in seinem Spielfilm-Debüt. Son of Saul ist ein Holocaust-Drama, das Abstand nimmt von jeglichem Sentimentalismus und ausnahmehaften Überlebensgeschichten. Stattdessen wagt dieser Film den Versuch, dem Zuschauer eine Ahnung von der Ausweglosigkeit inmitten des Grauens zu vermitteln. Und eine Vorstellung davon, was es kostet, sich ein Stückchen geraubter Menschenwürde zurück zu erkämpfen.
Der Blick über die Schulter
Es ist ein enges und sehr unscharfes Sichtfeld, das uns zu Beginn von Son of Saul erwartet. Wir sehen zwei Gestalten, die im Wald etwas verbuddeln, bevor sie hochschrecken und die Kamera einen auf sie zuschreitenden Mann fokussiert, an den wir bis zum Ende des Films gebunden sein werden: Saul. Saul ist ein jüdischer Häftling, der im sogenannten Sonderkommando des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau tätig ist. Dieses Arbeitskommando ist dafür zuständig, die nach Auschwitz Deportierten zu empfangen und zu entkleiden, bevor sie in die Gaskammer getrieben werden. Anschließend kümmert es sich um die ‚Entsorgung‘ ihrer Leichen und die Entnahme ihrer Wertgegenstände.
Äußerst zügig und mit roboterhafter Gleichförmigkeit verrichtet er seine Tätigkeiten, knöpft die Hemden älterer Deportierter auf und durchsucht die Taschen der abgelegten Mäntel nach Wertgegenständen. Nachdem die Tür zur Gaskammer mit einem lauten Ruck geschlossen wird, wartet er schließlich still mit den anderen Sonderkommando-Häftlingen, bis die Schreie verstummen.
Ein unverhoffter Weckruf
Als Saul und seine Mithäftlinge anschließend zum Abtransport der Leichen in die Gaskammer geschickt werden, entdecken sie das Unmögliche: Ein Junge hat die Vergasung überlebt und kämpft mit schwerer Atemnot. Ein Lagerarzt untersucht den Jungen daraufhin, nimmt sein Überleben als kuriosen Fall zur Kenntnis und tötet ihn schließlich vor den Augen des Sonderkommandos. Was seine Mithäftlinge wahrscheinlich als eines unter unzähligen grauenhaften Lagererlebnissen verbuchen, versetzt Saul fortan in einen manisch-wahnhaften Zustand. Er meint in diesem Jungen, der die Gaskammer überlebt hat, nur um anschließend ermordet zu werden, seinen eigenen Sohn zu erkennen. Er ist willens, ihm die letzte Ehre zu erweisen, indem er seine Leiche vor dem Abtransport zu den Verbrennungsöfen bewahrt und im Lager fieberhaft nach einem Rabbi sucht, der für mit ihm das Kaddisch zum Totengedenken spricht. Währenddessen plant das Sonderkommando den bewaffneten Aufstand.
Ein Stückchen Würde
Als das „dämonischste Verbrechen der Nationalsozialisten“ hat der italienische Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Primo Levi einst die Schaffung des Sonderkommandos bezeichnet, das zur Beihilfe bei der systematischen Ermordung seiner Mithäftlinge gezwungen wurde. Es diente sowohl der maximalen Herabwürdigung als auch dem Zweck, Zeugenschaft beim Massenmord zu verhindern. Schließlich wurden die Häftlinge des Sonderkommandos nach einigen Monaten Tätigkeit ermordet und durch neue Häftlinge ersetzt.
László Nemes rückt in Son of Saul die Dimensionen dieses Verbrechen in den Vordergrund, indem er den Zuschauer an die Perspektive eines Sonderkommando-Häftlings kettet. Fast bis zur letzten Einstellung sitzt man Saul im Nacken und hat genauso wenig wie dieser eine Chance, den Blick schweifen zu lassen und damit für kurze Zeit der allgegenwärtigen Beklemmung zu entfliehen. Zugleich erzählt Nemes‘ Film vom Kampf um die Wiedererlangung menschlicher Würde im Angesicht ihres scheinbar unumkehrbaren Verlustes. Nüchtern, fernab von jeglicher Rührseligkeit und gerade dadurch lange nachhallend.
Son of Saul(Original: Saul fía) culturshock-Wertung: 9/10 |
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