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Buchkritik: Durch Mauern gehen

70 Jahre alt ist die serbische Performance-Künstlerin Marina Abramović Ende letzten Jahres geworden. Auf dem Cover ihrer Autobiografie Durch Mauern gehen sieht man ihr das natürlich nicht an. Nahezu faltenfrei und mit zurückgebundenem schwarzen Haar blickt sie uns da starr in die Augen, was unvermeidbar an ihren popkulturellen Durchbruch im Jahre 2010 erinnert: Mit der Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, ihrer dort dargebotenen Performance und dem gleichnamigen Dokumentarfilm The Artist Is Present erreichte Abramović eine weit über die Kunstwelt hinausgehende Aufmerksamkeit, positiv wie negativ.

Drei Monate lang, hatte sie dafür täglich acht Stunden auf einem Stuhl im Ausstellungsraum ausgeharrt und jedem Museumsgänger, der sich ihr gegenüber platzierte, so lang er wollte, in die Augen geblickt. Als sinnfreien Anstarrwettbewerb sahen das die einen, als energetischen Austausch und würdige Vollendung ihres jahrzehntelangen Schaffens die anderen. Humorvoll und mit entwaffnender Offenheit blickt Abramović an den gespaltenen Meinungen vorbei auf ein Künstlerleben zurück, das der Überwindung von Hindernissen und dem Einswerden mit ihrer Arbeit gewidmet war.

Lakonischer Mystizismus

Ihre Lebensgeschichte beginnt sie, unerwartet konventionell, bei ihrer Kindheit im als trist empfundenen kommunistischen Jugoslawien. Als Tochter eines heldenhaften Partisanen-Ehepaares kam sie 1946 in Belgrad zur Welt. Die Eltern hatten im Zweiten Weltkrieg gegen die faschistische Besetzung und für Titos Vorstellung von Sozialismus gekämpft und wurden fortan mit einem Wohlstand bedacht, von dem die meisten Jugoslawen in dieser Planwirtschaft nur träumen konnten. Doch glücklich wurden die beiden nicht. Im Hause Abramović lebten die Eltern im „permanenten Kriegszustand“, den sie vor ihrer Tochter Marina und deren jüngerem Bruder nicht verbargen – ebenso wenig wie die geladenen Pistolen, die auf ihren Nachttischchen lagen. Ihre von dieser feindseligen Atmosphäre und den mütterlichen Schlägen überschattete Kindheit, beschreibt Abramović mit einer fast irritierenden Menge an trockenem Humor, der beim Lesen mitfühlen aber sie nicht bedauern lässt.

Viel ernstere Töne schlägt sie dagegen an, wenn es um die ersten Entdeckungen des Übernatürlichen geht. Die Geister, „schimmernd, formlos und lautlos“, zu denen sie jedes Mal Kontakt aufnahm, wenn die Mutter sie zur Strafe in den großen, dunklen Wandschrank sperrte, die „schimmernden Wesen“, „Schatten und Toten“, von denen es in ihrer Kindheit wimmelte. Eine hohe Neigung zum Mystischen kann man in solchen Schilderungen Abramovićs erkennen. Und wer Geschichten über übernatürliche Phänomene, eintreffende Prophezeiungen von Hellsehern und die Wahrnehmung von Parallelwelten unerträglich findet, wird sich mit dieser Autobiografie schwer tun. Der Glaube an unsichtbare, höhere Mächte, Energiefelder und Praktiken aus der buddhistischen und hinduistischen Mystik sind fest in Abramovićs Werk verankert und prägen zusammen mit ihrem lakonischen Ton ihren Blick auf das Vergangene.

Kunst und Schmerz

Bereits im Alter von sieben Jahren habe sie gewusst, dass sie Künstlerin werden will und wurde darin von ihrer Mutter, die in der Denkmalpflege arbeitete, bestärkt. An der Belgrader Akademie der Bildenden Künste studierte sie in den 60ern Malerei, begeisterte sich aber zunehmend für neue Formen der Konzept- und Performance-Kunst, die damals durch Bewegungen wie Fluxus in Deutschland und Arte Povera in Italien in Umlauf waren. Während das Belgrader Kulturzentrum ihre ersten eigenen Performance-Ideen ablehnte, gaben ihr die Macher vom Edinburgh Festival in Schottland 1973 die Gelegenheit, Rhythm 10 vor Publikum aufzuführen: Eine Performance, bei der Abramović, einem slawischen Trinkspiel gleich, blitzschnell mit einem Messer zwischen ihre auf dem Boden gespreizten Finger stach, sich dabei immer wieder verletzte und ihre Schreie mit einem Tonband aufnahm, das sie in der zweiten Runde abspielte. Die entsetzte und gespannte Reaktion des Publikums sieht sie als eine Art Erweckungserlebnis, das sie fortan zunehmend antreiben sollte:

„Es war, als würde elektrischer Strom durch meinen Körper fließen, als wären das Publikum und ich eins geworden. Ein einziger Organismus. Das Gefühl der Gefahr im Raum hatte die Zuschauer und mich in diesem Moment vereint: Wir waren hier und jetzt und nirgendwo anders.“

Es folgten weitere, immer gewagtere Performances, die sie quer durch Europa aufführte. Furcht- und rücksichtslos sprang Abramović dabei mit ihrem Körper um, den sie sich auspeitschte, aufritzte, der Gefahr der Verbrennung aussetzte – alles in der festen Überzeugung, „dass der Schmerz so etwas ist wie eine heilige Tür zu einem anderen Bewusstseinszustand“ öffnet. Der Performance-Kunst schreibt sie transformative Kräfte zu, ihren eigenen Performances das Potenzial, sie und ihr Publikum von Angst befreien zu können. In dieser Überzeugung setzte sie sich in Rhythm 0, einer ihrer bis heute meistdiskutierten Performances, bewusst der potentiellen Verletzung durch das Publikum aus:

Den Ablauf ihrer Performances, die gelegentlichen Unfälle und die Reaktionen der Presse, die sie zur exhibitionistischen Masochistin deklarierte, schildert Abramović mit der Unbekümmertheit einer Person, die sich nicht (mehr) genötigt fühlt, ihre Arbeit als Kunst zu rechtfertigen – was imponiert.

Verschmelzung und Auflösung

Gut ein Drittel ihrer Memoiren nimmt die zwölfjährige Liebes- und Arbeitsbeziehung mit dem deutschen Künstler Ulay (mit vollem Namen Frank Uwe Laysiepen) ein. 1975 lernen sich die beiden in Amsterdam kennen und lieben. Ihre Beziehung wird vom Empfinden einer absoluten Einheit definiert: Beide haben am gleichen Tag Geburtstag, eine unbedingte Hingabe zur Performance-Kunst und ein untrügliches Gespür füreinander. Sie nehmen sich als „verschmolzene Persönlichkeit“, als „Kleber“ wahr. Als die glücklichsten Jahre ihres Lebens beschreibt Abramović die vier Jahre, die sie zusammen mit Ulay in einem Citroën-Bus lebte und quer durch Europa tingelte. Gemeinsam konzipierten sie Performances, in denen sie sich gegenseitig spiegelten und ergänzten. Die wohl anmutigste unter ihnen dürfte Rest Energy sein, in der Abramović einen großen Bogen hielt, während Ulay die Sehne mit einem auf ihre Brust gerichteten Pfeil spannte – „die ultimative Darstellung von Vertrauen“, so Abramović:

Wie diese Einheit ab einem bestimmten Punkt mit jeder Performance langsam aber spürbar auseinanderbrach, lässt Abramović mit Bedauern, aber aufrichtigen Worten in ihre Rückschau einfließen. Zunehmende Enttäuschungen, auseinanderdriftende Lebensentwürfe und die für beide strapaziöse Performance Night Sea Crossing (1982) fügen der Beziehung irreparable Schäden zu, die sie, ohne dass es Abramović im Nachhinein erklären kann, noch jahrelang fortführen. Das schmerzhafte Ende besiegeln die beiden schließlich 1988 mit The Lovers, ihrem Gang über die chinesische Mauer.

Kunst und Leben

Menschen, die meinen, dass sich die Zeit der großen Lebens-Abenteuer auf die 20er und 30er beschränken, öffnet die zweite Hälfte von Durch Mauern gehen die Augen: Abramović ist 42 Jahre alt, als ihre langjährige Beziehung und die fruchtbare Zusammenarbeit mit Ulay hinter ihr liegen und sie ihr Leben neu ordnen muss. Ihr Weg führt sie von Amsterdam nach Paris, nach São Paulo, nach Berlin – es ist schwer Schritt zu halten mit ihren zahlreichen Arbeits- und Lehraufenthalten. Dazwischen zieht es sie immer wieder zurück nach Belgrad und zu ihren getrennt lebenden Eltern, denen der Zerfall Jugoslawiens zusetzt. Es sind umtriebige Jahre voller eindrücklicher Erlebnisse, Gefühlsschilderungen und allen voran: Arbeit.

Man mag sich beim Lesen an Abramovićs Schilderungen von gelegentlichen Affären, ihren Begegnungen und Freundschaften mit Persönlichkeiten wie Susan Sontag erfreuen, wird dann aber schleunigst wieder auf das Terrain geführt, auf dem sich Abramović in ihrer zweiten Lebenshälfte unermüdlich und mit zunehmendem Erfolg fortbewegt – der Konzeption, Vermarktung und Lehre ihrer Performances. Ihre Kunst ist das Mittel, mit dem sie den Bürgerkrieg in ihrer Heimat, den Tod ihrer Eltern, ihr Altern, die Angst vorm Alleinsein verarbeitet.

So ist denn auch The Artist Is Present, die Performance, die sie kurz nach dem Scheitern ihrer Ehe mit dem italienischen Bildhauer Paolo Canevari, aufführt, zwar noch noch nicht der Abschluss, aber der große Schlüsselmoment ihrer Autobiografie. In jeder achtstündigen Sitzung werden Arbeit und Leben für sie eins und die Menschen auf dem Stuhl gegenüber zur Verkörperung „bedingungsloser Liebe“. „Dass Kunst das Leben sein muss“, und sich das eine nicht vom anderen trennen lässt, lautet Abramovićs Schlussfolgerung, die ihr Lebensrückblick bis zu dieser Stelle ohnehin schon offenbart hatte.

Marina Abramović:

Durch Mauern gehen. Autobiografie

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
Luchterhand Literaturverlag, 2016
480 Seiten
Mit 141 Schwarz-weiß-Fotos und 16 Seiten Farbbildteil
PREIS: 28,00 Euro

culturshock-Wertung: 9/10

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