Film

Filmkritik: A Beautiful Day

Dass ein Film auf einem renommierten Festival wie Cannes von den Kritikern gefeiert und ausgezeichnet wurde, muss nicht heißen, dass sich diese Begeisterung auch aufs reguläre Kinopublikum übertragen wird. Man denke bloß an Ruben Östlunds arg bemühter Sozialsatire The Square, dem letztjährigen Sieger der Goldenen Palme. Vielmehr steigt damit vorm Kinostart die Gefahr unerfüllbarer Erwartungen. Doch jede Sekunde von Lynne Ramsays A Beautiful Day (Original: You Were Never Really Here) zeigt, dass in den minutenlangen Standing Ovations von Cannes keinesfalls überreagiert wurde. Dieser Film ist auf unerwartete Weise brutal und mitreißend – und ein außergewöhnliches visuelles Erlebnis.

Gebrochener Auftragskiller

Zu Beginn mag man das Gefühl haben, einen besonders düsteren Action-Thriller zu sehen: Joe (Joaquin Phoenix), ein nicht mehr junger Mann mit Rauschebart und bedrohlich wirkender Bulligkeit, ist der Typ, den man engagiert, wenn man die Polizei nicht einschalten kann oder will. Mit sorgfältiger Planung und brachialer Gewalt (sein Instrument: ein Hammer) spürt er entführte und zur Prostitution gezwungene Minderjährige auf. In präzisen kurzen Einstellungen zeigt uns A Beautiful Day zunächst, wie Joe nach erfolgter Mission seine Spuren beseitigt und sich anschließend zurück nach New York begibt. Dort erwartet ihn sein trister Alltag: Er kümmert sich um seine demente Mutter, plant seine nächsten Aufträge und widersteht seinen immer drängenderen suizidalen Tendenzen. Die Gründe für Joes Todessehnsucht erläutert dieser Film nie explizit sondern verhandelt es auf visueller Ebene. Immer wieder werden prägnante Momentaufnahmen aus Joes Vergangenheit eingeblendet – zunächst nur kurz und als nicht zuzuordnende Detailaufnahmen.

A Beautiful Day

Joe (Joaquin Phoenix) | © 2018 Constantin Film Verleih GmbH

Hinab in die Dunkelheit

Als ihn sein neuester Fall in Regierungskreise führt und er beauftragt wird, Nina (Ekaterina Samsonov), die Tochter eines Gouverneurs, aus einem Kinderbordell zu befreien, fügen sich die Bilder aus Joes Vergangenheit nach und nach zusammen und die Kontexte werden deutlicher. Sie lassen uns erkennen, dass das Grauen der Handlungsebene auf einer schon lange bestehenden Düsternis aufbaut. Joes Innenleben ist von unverarbeiteten Traumata, tiefen Verletzungen und Verzweiflung gezeichnet. Ohne erklärende Dialoge oder längere Rückblenden erfahren wir, warum Joe dieses Leben führt und wahrscheinlich nur ein solches führen kann.
A Beautiful Day

Joe und Nina (Ekaterina Samsonov) | © 2018 Constantin Film Verleih GmbH

Die schottische Drehbuchautorin und Regisseurin Lynne Ramsay (We Need to Talk About Kevin) vertraut auf die Geduld und die Intelligenz ihrer Zuschauer. Sie konfrontiert sie mit düster-poetischen Bildern, auf die sie sich selbst einen Reim machen müssen. Und tatsächlich sind diese Bilder von solcher Intensität, dass sie einen tief in die Geschichte eintauchen und sie behutsam erkunden lassen. Das übrige tut der vom Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood komponierte Elektro-Soundtrack, der das Gezeigte nicht einfach untermalt, sondern eine ganz eigene Erzählung von Betäubung und zunehmend hervorbrechender Verzweiflung vorantreibt.

Wider alle Erwartungen

Wo man sonst vielleicht mit Langatmigkeit rechnen würde, schafft es Ramsay wie ganz nebenbei mit A Beautiful Day auch einen packenden Thriller zu erzählen, der immer mit Erwartungen bricht. So weicht sie etwa geschickt der expliziten Gewaltdarstellung aus. Die Kamera hält bei Joes brutalsten Konfrontationen niemals direkt drauf, sondern zeigt uns vielmehr die Konsequenz aller rabiaten Handlungen. Damit bleibt der Fokus weiterhin auf der eigentlichen Brutalität von unbewältigten Traumata. Und diese ist das wirklich verstörende an diesem Film, von dem man sich kurz erholen muss. Um ihn dann am liebsten noch einmal zu sehen, seine Details und Muster zu erkunden und Antworten auf die Frage zu suchen, wie ein so düsterer Film so euphorisierend wirken kann.

 

 

A Beautiful Day (Original: You Were Never Really Here)

Frankreich / Großbritannien / USA 2017

Regie & Drehbuch: Lynne Ramsay

Besetzung: Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Alessandro Nivola, John Doman, Alex Manette, Judith Roberts

Länge. 95 Min.

Deutscher Kinostart: 26. April 2018

culturshock-Wertung: 9/10

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