Film

Filmkritik: Ghost Town Anthology

BERLINALE WETTBEWERB: Denis Côté ist mit Ghost Town Anthology ein nachdenkliches Mystery-Drama über Vergänglichkeit gelungen.

Gerade mal 215 Einwohner kann das kleine Dorf Irénée-les-Neiges im kanadischen Québec vorweisen. Viele haben das Dorf schon verlassen, nachdem das Bergwerk dichtgemacht hat. Und nachdem der junge Simon Dubé einen Autounfall zu Beginn des Films hat, ist es wieder einer weniger. Sein Bruder Jimmy (Robert Naylor) weist die Gerüchte, dass es sich bei Simons Tod um Selbstmord gehandelt hat, zwar zurück. Aber so richtig erklären kann er sich auch nicht, wie Simon so plötzlich die Kontrolle über seinen Wagen verlieren konnte. Währenddessen erträgt sein Vater Romuald (Jean-Michel Anctil) die Trauer in seinem Haus nicht. Kurzerhand verlässt auch er das Dorf, wie er seiner Frau Gisèle (Larissa Corriveau) schreibt, mit der Absicht wiederzukommen.

Ghost Town Anthology

Allein in der Geisterstadt: Jimmy (Robert Naylor)

Doch diese Familientragödie wird vom Regisseur und Drehbuchautor Denis Côté in eine größere Erzählung über das Phänomen Geisterstädte eingebettet. Irénée-les-Neiges ist eine von ihnen. Es gibt keine Entwicklungen oder Perspektiven in dieser ländlichen Gegend, die sich im Winter noch unwirtlicher gibt. Viele Einwohner können immer weniger vor sich rechtfertigen, hier weiter zu leben. Andere hingegen schätzen die Überschaubarkeit des Dorflebens, in dem jeder jeden kennt. So fallen den einzelnen Einwohner auch schnell die Fremden auf, die sich bald hier und da und dann immer häufiger im Dorf blicken lassen. Es sind keine Neuankömmlinge, es sind die Toten.

Ein Film für den zweiten Blick

Ghost Town Anthology

Die Einwohner verstehen die Welt nicht mehr – und was ist das da in der Luft?

Ghost Town Anthology ist ein nachdenkliches Mystery-Drama, das eine Atmosphäre der Verlassenheit und Vergänglichkeit fokussiert. Auf 16 mm-Film gedreht und in verwaschenen und staubig wirkenden Bildern erzählt dieser Film von einem abgelegenen Dorf am Rande des Verschwindens. Die überall auftauchenden Geister ehemaliger Einwohner lassen sich kaum von den Lebenden unterscheiden, so dass bald für die Figuren im Film wie für den Zuschauer existenzielle Fragen aufkommen. Lässt sich ein Leben im Stillstand und unter Ablehnung jeglicher Veränderung noch Leben nennen? Wie gehen wir mit unserer und der Vergänglichkeit um uns herum um?

Angelehnt hat Côté seinen Film an dem gleichnamigen Roman des kanadischen Schriftstellers Laurence Olivier, der sich mit Stillstand und Isolation der Provinz Québec auseinandersetzt. Côtés Adaption besticht durch eine stete Abwechslung unheimlicher, lustiger und trauriger Momente, die die etwas behäbige Erzählweise auflockert. Aber selbst diese Behäbigkeit hat ihren Sinn in diesem anregenden Film, der keine sofortigen Begeisterungsstürme bei der Pressevorführung ausgelöst hat, sondern eher etwas für den zweiten Blick ist.

Ghost Town Anthology

(Original: Répertoire des villes disparues)
Kanada 2019
Regie&Drehbuch: Denis Côté
Besetzung: Robert Naylor, Josée Deschênes, Jean-Michel Anctil, Larissa Corriveau, Rémi Goulet
96 Min. Kinostart Deutschland: unbekannt
Berlinale 2019 – Wettbewerb

culturshock-Wertung: 7/10

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