Film

Filmkritik: Experimenter

Experimenter, der Eröffnungsfilm des diesjährigen Unknown Pleasures-Festivals, hat Stanley Milgram und sein weltbekanntes sozialpsychologisches Experiment zum Thema: 1961, im selben Jahr, als in Jerusalem der Eichmann-Prozess stattfand, führte der amerikanische Psychologe Stanley Milgram an der Yale Universität eine Studie zu Gehorsam gegenüber Autoritäten mittels eines sorgfältig vorbereiteten Experiments durch.

Den Teilnehmern wurde vom Versuchsleiter erklärt, es gehe bei diesem Test um die Auswirkung von Bestrafung auf den Lernprozess. Ihre Aufgabe bestand darin, als ‚Lehrer‘ dem in einem abgetrennten Raum sitzenden anderen Teilnehmer – dem ‚Schüler‘ (in Wirklichkeit ein eingeweihter Schauspieler) – per Knopfdruck Stromstöße für jede falsche Antwort zu geben. Mit jeder falschen Antwort erhöhte sich die Intensität des Stromschlags um 15 Volt, bis zu einer als „gefährlich“ deklarierten Höhe von 450 Volt. Der Versuchsleiter versicherte jedoch, dass der Schüler keine bleibenden Schäden davontragen würde.

Nach Ausführung des 150 Volt-Knopfs hörte der Lehrer den Schüler rufen, dass er das Experiment abbrechen wolle, da er ein Herzleiden habe und es nicht mehr aushalte. Nach weiterer Ausführung hörte er den Schüler schreien. Ab 300 Volt verweigerte der Schüler schließlich die weitere Beantwortung der Fragen. Wie viele der Versuchsteilnehmer brachen an diesem Punkt das Experiment ab, obwohl sie aufgefordert werden weiterzumachen?

Die schockierende Antwort

35 Prozent. Das heißt, in Milgrams Experiment war eine klare Mehrheit von rund 65 Prozent der Teilnehmer bereit, einer anderen Person auf Anweisung weiter Stromstöße zu verpassen, obwohl sie befürchten mussten, dieser damit starke bis tödliche Schmerzen zuzufügen. In der Eröffnungsszene von Experimenter sehen wir einen Durchgang des Versuchs aus der Sicht von Stanley Milgram (Peter Sarsgaard), der den Verlauf durch eine Einweg-Spiegelwand in einem anderen Raum mitverfolgt und sich Notizen macht.

Wir sind Eingeweihte, sehen, wie dem Lehrer der Schüler-Raum mit dem ‚elektrischen Stuhl‘ gezeigt wird und wie der den ‚Schüler‘ darstellende Schauspieler eine Tonbandaufnahme einschaltet, sobald die Versuchsperson den Raum verlassen hat. Das Eingeweihtsein geht noch einen Schritt weiter, als Milgram beim entscheidenden Punkt des Experiments die vierte Wand durchbricht, in die Kamera blickt und kommentiert, dass es jetzt interessant werde. Ein ungewöhnlicher Kunstgriff für ein Biopic, der zunächst aber nur den Eindruck einer Komplizenschaft mit dem Protagonisten verstärkt, als handle es sich hier um Betrug.

Denn die Ergebnisse von Milgrams Experiment stießen auf ein geteiltes Echo. Während ein Teil seiner forschenden Kollegen bestürzt aber dankbar auf das Ergebnis reagierte, warfen ihm andere eine unethische Versuchsanordnung vor, die die Teilnehmer von Beginn an getäuscht hätte. Dieser Widerstand gegen Milgrams Experiment schien einem gewissen Widerwillen zu entspringen, die erschreckenden Ergebnisse anzuerkennen und damit zu bestätigen, dass eine Mehrheit Befehle von Autoritätspersonen trotz innerem Widerstand blind befolgen würde. Ein hochinteressantes Spannungsfeld, in das der Film immer wieder tritt, ohne länger zu verweilen.

Gegen das Schema

Denn Regisseur und Drehbuchautor Michael Almereyda wollte unbedingt die schematische Erzählweise vieler Biopics vermeiden, wie er im Anschluss an die Vorführung dem Publikum erklärt. Stattdessen habe er sich für eine Collagen-Ästhetik entschieden. Diese greift Milgrams Leben punktuell, statt gänzlich chronologisch auf. Seine Kindheit, Jugend und Ausbildung sind völlig ausgeblendet und wir müssen uns gänzlich auf Peter Sarsgaards Darstellung verlassen, um aus diesem Film einen Eindruck vom bekannten Sozialpsychologen mitzunehmen. Stoisches Mienenspiel, hängende Schultern, monotone Stimmlage, pointierte Schlussfolgerungen machen Sarsgaards Milgram aus, der in einigen Szenen das Wort an uns richtet, während er durch einen Flur wandert und ein Elefant hinter ihm herläuft (der berühmte ‚Elephant in the Room‘).

Selbst als wir ihn seiner künftigen Frau Alexandra (Wynona Ryder), genannt ‚Sasha‘, begegnen sehen, bleibt sein Gesichtsausdruck unbeeindruckt. Stattdessen teilt uns sein Voice-Over mit, dass das ein Augenblick ist, der sein Leben für immer verändert. Bis zum Schluss des Films ist man als Zuschauer darauf angewiesen, dass Milgram einen an die Hand nimmt und zu den wichtigen Stellen seines Lebens führt. Dabei wird jeder Konflikt zwischen Milgram und seiner Frau oder seinen Studenten sanft beiseite geschoben, bevor er näher erkundet werden kann.

Das Orson Welles-Syndrom

Stanley Milgram sei sehr viel mehr gewesen als sein berühmtes Gehorsamkeitsexperiment, erklärt Almereyda im anschließenden Gespräch mit dem Publikum. Er führt Orson Welles zum Vergleich an, der heute nur wegen Citizen Kane erinnert werde. Dabei kann man Almereydas Film einen ebensolchen Vorwurf machen. Experimenter ist ein biografischer Experimentalfilm zu einer hochinteressanten Persönlichkeit, die wir gerade aufgrund der ungewöhnlichen Erzählmittel nicht wirklich zu fassen kriegen. Zu elliptisch, zu fahrig ist die Inszenierung geraten. Der Collage, die Almereyda hier geschaffen hat, fehlt es an Struktur und Dreidimensionalität. Und so rückt das berühmte Experiment anstelle seines Entwicklers in den Vordergrund und regt zur intensiven Reflexion über Gehorsam und Widerstand gegenüber Autoritäten an. Vielleicht nicht die beabsichtigte, aber eine immer noch große Leistung von Experimenter.

Experimenter Stanley Milgram BiopicExperimenter

USA 2015
Regie & Drehbuch: Michael Almereyda
Kamera: Ryan Samul
Besetzung: Peter Sarsgaard, Winona Ryder, Edoardo Ballerini
98 Min.
Gesehen auf dem Festival Unknown Pleasures #8 – American Independent Film

culturshock-Wertung: 6/10

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